Schoenhauser Allee
schlaf lange,
Deine Mutti ist ausgegangen.
Die Erzieherin sang mit hoher Stimme vor.
Sie ist ganz weit ausgegangen/
Und kommt nicht mehr heim./
Sie ist ganz weit ausgegangen/
Und lässt dich ganz allein.
Manche Kinder schliefen dabei wirklich ein, andere lachten nur nervös oder kuckten uns, die Neuankömmlinge, neugierig an. Danach las die Erzieherin aus dem Märchenbuch
1001 Nacht
vor. Mit großem Erstaunen bemerkte ich, wie haargenau diese uralten orientalischen Geschichten die gegenwärtige Wirtschaftssituation in Deutschland widerspiegelten und die Kinder damit schon jetzt auf ihr zukünftiges Berufsleben vorbereiteten.
»Wie ist dein Name, Wanderer, und was für ein Handwerk betreibst du?«, fragte der Großwesir den Unbekannten.
»Ich bin Suleyman, der Sohn von Rachid. Ich kann das Schicksal aus den Sternen lesen, Schlangen beschwören und singen und tanzen. Außerdem kann ich die gesamte Geschichte Ihres Landes in hochwertigen Reimen zu Papier bringen.«
»Deine Künste werden in unserem Lande nicht gebraucht«, antwortete der Großwesir enttäuscht. »Die Bürger hier leben vom Handel. Alles andere interessiert sie nicht. Aber ich gebe dir einen guten Rat. Geh in den Wald, Suleyman, Sohn des Rachid. Und nimm ein Seil und eine Axt mit. So kannst du uns jeden Tag mit Holz beliefern, dafür bekommst du bis zu einem halben Dinar.«
Exakt dasselbe Gespräch hatte ich Ende November im Arbeitsamt mit einem Herrn Einstein geführt, als der mir eine blöde Umschulungsmaßnahme anhängen und mich davon überzeugen wollte, dass ich als Fliesenleger oder Tischler sehr viel glücklicher sein würde.
Einige freche Früchtchen schliefen bei dem Vortrag ein, doch andere hörten aufmerksam zu. Meine Tochter verstand zwar kein Wort, aber dadurch war er für sie nur noch interessanter. Die Erzieherin zwinkerte mir mit dem linken Auge heimlich zu. Damit gab sie mir ein Zeichen: Es war die richtige Zeit für mich zu gehen. Leise verließ ich den Raum. Wenn es stimmte, was mir einige Freunde erzählt hatten, dass nämlich Kinder in dem Alter fähig sind, sich innerhalb von einigen Stunden in einer neuen Sprache zurechtzufinden, dann konnte Nicole mir vielleicht schon heute Abend erzählen, ob der Geist aus der Flasche dem Holzfäller Suleyman aus der Klemme half, damit er weiter seine Schlangen beschwören und hochwertige Reime über die Geschichte eines Landes produzieren konnte. War der Junge eigentlich überhaupt noch zu retten?
Berühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Elvis Presley
Ein Zeichen des modernen Lebens ist der volle Briefkasten. Nicht nur die unvermeidlichen Pizzerien und gierigen Lottovereine, auch durchaus solide Unternehmen fühlen sich verpflichtet, jedem Briefkasteninhaber mitzuteilen, was sie gerade so treiben. Mir völlig unbekannte Banken kündigen per Post ihre Fusionierungspläne an, und Pharmakonzerne aus Westdeutschland werben für ihre Blutdruckmessgeräte. Jeder Briefkasten ist wichtig, hinter jedem verbirgt sich ein potenzieller Kunde. Auch der Ärmste, der nichts hat und wahrscheinlich auch früher nie etwas hatte. Aber wer weiß das schon, die Konsumrealität ist so flexibel geworden: Heute noch arm, aber schon morgen erbt der Mann vielleicht ein Vermögen und entwickelt sich rasch zu einem starken Konsumenten.
Ein weiteres Zeichen des modernen Lebens ist: Die meiste Post landet im Mülleimer, ohne gelesen zu werden. Keiner gibt sich mehr Mühe, einen dicken Briefumschlag mit der Aufschrift »Ihre persönliche Million« aufzumachen. Dafür steht auch bei uns im Haus ein extra Karton unter den Briefkästen. Und alle Mitbewohner benutzen ihn. Jeden Tag. Außer meinen vietnamesischen Nachbarn aus dem Gemüseladen im Erdgeschoss. Sie nehmen jeden Brief ernst, den sie bekommen, studieren jeden Zettel und antworten sogar manchmal, obwohl es gefährlich ist. »Man kann auf diese Weise ganz leicht etwas erwerben, was man nicht braucht«, warnte ich sie. Doch die ganz anders erzogenen Asiaten sind der Meinung, dem Absender liege etwas daran, speziell sie anzuschreiben. Deswegen sind die Vietnamesen zum Beispiel schon mehrmals Mitglieder des Bertelsmann Leseclubs geworden, und haben viele wichtige Bücher, unter anderem »Das große biografische Lexikon der Deutschen«, bekommen.
Wenn ihre zehnjährige Tochter mit der Übersetzung der Post nicht fertig wird, dann kommen sie zu mir.
Sehr geehrter Herr Wan Dong!
las ich neulich in einem Schreiben, das mein Nachbar zusammen mit
Weitere Kostenlose Bücher