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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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nicht bewältigen«, hatte er letztens noch gesagt. Also brauchte die Tante auch einen Ehemann in Deutschland. Plötzlich fielen alle Blicke auf Manfred, den neuen Freund von Marina, der bisher trotz guter Russischkenntnisse bei dem Gespräch außen vor geblieben war. Was wäre, wenn er die Tante von dem zweiten Ex-Ehemann heiratete? Sofort geriet Manfred in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Gläser wurden erneut mit Wodka gefüllt.
    »Hallo, Manfred«, sagten die Russen, »wir sind froh, dass du jetzt zu unserer großen Familie gehörst; sei du auch froh.«
    »Bin ich, aber es ist schon spät, ich muss morgen um sieben zur Arbeit, seid ihr nicht auch müde? Wir können doch das alles ein andermal besprechen«, schlug Manfred vorsichtig vor.
    »Kommt nicht in Frage«, sagten die Russen. »Die Party fängt doch jetzt erst richtig an!«
    Sie tranken den Wodka aus, drehten die Musik lauter, gingen zu zweit und zu dritt ins Schlafzimmer, um auf Manfreds Wasserbett zu hüpfen, bis aus allen Ecken Wasser tropfte. Danach tanzten die Gäste auf dem Sofa, bis es auseinander fiel. Der erste Ex-Ehemann unterhielt sich derweil in der Küche mit dem Schrank.
    »Das Schicksal war so hart zu uns«, sagte er immer wieder zum Küchenschrank und versuchte ihn zu umarmen. Eine Tür brach ab. Um drei Uhr kam der Ex-Freund der zweiten Ex-Ehefrau des zweiten Ex-Ehemanns von Marina, um seine Ex-Freundin abzuholen. Die wollte aber nicht gehen, ohne vorher das Dessert probiert zu haben.
    »Was hast du zum Nachtisch vorbereitet, Marina?«, riefen die Russen und suchten die Gastgeberin überall. Sie hatte sich im Badezimmer versteckt, die Tür abgeschlossen und gab kein Lebenszeichen von sich.
    »Was wollt ihr zum Dessert?«, fragte Manfred die Anwesenden.
    »Sex«, sagte plötzlich der erste Ex-Ehemann aus Kiew und machte das Licht aus. In der Dunkelheit begann er, den Ex-Freund der zweiten Ex-Ehefrau zu attackieren, die beiden kämpften auf dem Teppich, die Umstehenden versuchten, sie auseinander zu zerren.
    Am nächsten Tag waren alle weg. Marina kam aus dem Badezimmer und konnte sich an nichts mehr erinnern. Auf Manfreds Vorschlag, alles in der Wohnung so liegen zu lassen bis zu ihrem nächsten Geburtstag, weil die Russen dann sowieso alles wieder kaputtmachen würden, reagierte sie zickig.
    »Sie mögen vielleicht manchmal unerträglich sein, aber in Wirklichkeit sind sie sehr nett. Sie haben mir so viele Blumen geschenkt«, verteidigte sie ihre Landsleute.
    »Und das Sofa platt gemacht. Jetzt können wir das Ding nur noch wegschmeißen«, fügte Manfred hinzu.
    »Sie randalieren nur, weil sie so schüchtern sind und leicht verletzlich und so schwer Zugang zueinander finden«, erklärte Marina.
    »Das habe ich aber ganz anders in Erinnerung. Wenn diese schüchternen Menschen uns noch einmal besuchen, springe ich sofort aus dem Fenster«, erwiderte Manfred.
    Die beiden stritten sich noch zwei volle Stunden, danach gingen sie zusammen in die Schwimmhalle im Ernst-Thälmann-Park, um ihren Geburtstagsstress abzubauen. Anschließend vertrugen sie sich wieder. Die Wohnung sah schon nach zwei Tagen wie neu aus.

Kannibalismus
    Als die russische Raumstation
MIR
vor fünfzehn Jahren auf ihre Umlaufbahn gebracht wurde, spielte sie eine wichtige Rolle in dem damaligen »Kampf für den Frieden«, den die Sowjetunion gegen den Westen führte. Die gesamte Wirtschaft des Landes musste sich damals tierisch anstrengen, um bei der Produktion neuer nuklearer Waffen mithalten zu können. Es gab kaum noch Betriebe, die nichts mit Waffenproduktion zu tun hatten. Der damalige Generalsekretär und leidenschaftliche Weltverbesserer Gorbatschow unterbreitete deswegen auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU Vorschläge zur vollständigen Beseitigung der Kernwaffen auf der Erde bis zum Jahr 2000. Die Delegierten verabschiedeten auf dem Parteitag einen Aufruf an den amerikanischen Kongress: »Für Fortschritt und Völkerverständigung – gegen nukleare Erpressung« hieß er. »Mal sehen«, meinten die Amerikaner dazu nur, »es ist ja noch lange hin bis zum Jahr 2000.«
    Die Raumstation
MIR
kreiste Jahrzehnte um die Erde. Über vierzigmal verkoppelte sie sich mit anderen Raumschiffen aus verschiedenen Ländern und koppelte sich wieder ab, einmal knallte sie gegen die Station »Fortschritt« und bekam auch von vorbeifliegenden Meteoriten immer wieder was ab. Darüber wurde sie alt und klapprig und schließlich entfernte man sie vom Himmel. Ihre

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