Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Wirtschaftsleben erwartet, und stattdessen Soldat zu werden: «Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt, und in diesem Alter dient sich’s doch am schönsten.» Am Tag nach Kriegsausbruch meldet er sich als Freiwilliger. Er hofft, beim örtlichen Feldartillerieregiment angenommen zu werden, dem Dreiundsechzigsten.
Und wenn sie ihn nicht haben wollen? Deshalb die Beunruhigung. Nicht weniger als eintausendfünfhundert Freiwillige haben sich beim Regiment gemeldet. Es gibt nur Platz für zweihundert.
Fremdsprachige Schilder verschwinden aus den Geschäften. Ab elf Uhr abends ist Ausgangssperre. Es heißt, ein feindliches Flugzeug habe die Stadt überflogen. Das Automobil der Familie, ein Wagen der Marke Adler, ist vom Militär übernommen worden. Der Hausdiener ebenso. Ja, einige Männer aus der Familie und dem Bekanntenkreis sind bereits mobilisiert worden. Wenn sie ihn nun nicht haben wollen?
Doch heute ist ein Freudentag für Herbert Sulzbach. Er ist einer der Auserwählten. «Ich bin endgültig Soldat. Rührende Beweise der Freundschaft von allen Seiten – die Mädels sind alle so besorgt, werden alle mütterlich.»
Bei der Einberufung trifft er manche seiner alten Schulkameraden. Das Wiedersehen ist herzlich. Sie werden alle im selben Bataillon dienen. Die ihnen zugeteilten Uniformen sind blau.
3.
Donnerstag, 20. August 1914
Richard Stumpf schreibt an Bord der SMS Helgoland ein Gedicht ab
Er ist erregt, bis ins Innerste. Noch eine Kriegserklärung, noch ein Staat, der sich zu den Feinden Deutschlands gesellt. Diesmal ist es Japan. Die Regierenden in Tokio haben sich eilends einer wachsenden Zahl von Kriegsopportunisten angeschlossen, die in dieser unsicheren Lage die Gelegenheit nutzen und etwas für sich herausholen wollen, zumeist Territorium. Japan hat dem Außenministerium in Berlin ein Ultimatum gestellt und fordert, dass sämtliche deutschen Kriegsschiffe Asien verlassen und die deutsche Kolonie Tsingtao 3 Japan übergeben wird.
Stumpf schäumt vor Wut. Und es bricht aus ihm heraus: «Ein derartiges unverschämtes Verlangen kann nur von diesen gelben, schlitzäugigen Asiaten gestellt werden.» Er ist überzeugt, dass die deutschen Truppen in Asien den «gelben Affen» tüchtig Prügel verabreichen werden.
Richard Stumpf, zweiundzwanzigjähriger Matrose der deutschen Hochseeflotte, kommt aus der Arbeiterklasse – bevor er sich vor zwei Jahren anwerben ließ, verdiente er seinen Unterhalt als Zinngießer –, er ist aber auch gläubiger Katholik, Mitglied einer christlichen Gewerkschaft und erklärter Nationalist. Wie so viele ist er berauscht vom Kriegsausbruch, nicht zuletzt, weil nun die Rechnung mit den verräterischen Engländern beglichen werden könne; die «eigentliche Ursache» dafür, dass Großbritannien in dem Konflikt Stellung bezogen habe, sei der «Neid auf unsere wirtschaftlichen Erfolge». «Gott strafe England», rufen manche Uniformierte, wenn sie einen Raum betreten, und die obligatorische Antwort lautet: «Er strafe es.»
Stumpf ist intelligent, chauvinistisch, neugierig und voller Vorurteile. Er liebt die Musik und liest gern. Ein Foto zeigt ihn als ernsten jungen Mann mit ovalem Gesicht, engstehenden Augen und einem kleinen, entschlossenen Mund. An diesem Tag ist Stumpf auf See, in der Elbmündung, an Bord des großen Linienschiffes SMS Helgoland , auf dem er Dienst tut, seit er in die Marine eingetreten ist. 4 Auf diesem Schiff befand er sich auch bei Kriegsausbruch.
Richard erinnert sich, dass die Stimmung gedämpft war, als ihr Schiff in den Hafen einlief, denn solange sie auf See gewesen waren, hatte es keine aufregenden Nachrichten gegeben; überall hörte man die Menschen über «diesen ganzen Aufstand wegen nichts» klagen. Niemand hatte jedoch Landurlaub erhalten. Stattdessen hatten sie Munition geladen und alles, «was nicht notwendig war», gelöscht. Um halb sechs war das Kommando «Alle Mann achteraus» ertönt, und sie hatten sich aufgestellt. Ein Offizier hatte dann, gefasst und mit einem Stück Papier in der Hand, verkündet, dass die Armee ebenso wie die Flotte in dieser Nacht mobilmachen würden: «Ihr wisst, was das bedeutet – Krieg.» Die Bordkapelle hatte eine patriotische Melodie gespielt, und alle hatten mitgesungen. «Der Jubel und die Begeisterung waren grenzenlos, dauerten bis in die späte Nacht hinein.»
Bei allem Hurrageschrei ist bereits eine merkwürdige Schieflage zu spüren. Es werden gewaltige Energien freigesetzt, die alle mitzureißen
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