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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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scheinen. Stumpf hat unter anderem – nicht ohne Genugtuung – registriert, dass einige radikale Autoren, die als scharfe Kritiker der wilhelminischen Gesellschaft bekannt waren, inzwischen ultrapatriotische Parolen von sich geben. Was in dieser Flutwelle überspannter Gefühle aber untergeht, ist die Frage, warum man überhaupt kämpft. Es gibt viele, die wie Stumpf zu wissen glauben, worum es «eigentlich» geht, die eine «wirkliche Ursache» entdeckt zu haben glauben, aber dieses «Eigentliche» und diese «wirkliche Ursache» sind schon hinter der Tatsache verschwunden, dass man kämpft. Der Krieg gibt bereits zu erkennen, dass er sein eigener Zweck ist. Wenige reden noch von Sarajevo.
    Manches an Propaganda gegen die wachsende Zahl von Feinden geht, wie Stumpf findet, zu weit. Zum Beispiel die vulgäre Postkarte, die er gerade in einem Laden gesehen hat. Sie zeigt einen deutschen Soldaten, der im Begriff ist, einen feindlichen Soldaten übers Knie zu legen, um ihm den Hintern zu versohlen, während er zu anderen, die daneben stehen und warten, sagt: «Nur nicht drängeln. Ihr kommt alle dran.» Oder etwa die gerade besonders populäre Parole, die die Jungs auf der Straße skandieren und mit Kreide auf die Eisenbahnwaggons schmieren: «Jeder Schuß ein Ruß, jeder Stoß ein Franzos’, jeder Tritt ein Brit’ und jeder Klaps ein Japs.» Anderes hat ihn tief berührt, wie jenes Gedicht des Schriftstellers Otto Ernst, das in der nationalistischen Zeitung Der Tag zu lesen war und das die Tatsache kommentiert, dass Deutschland sich jetzt mit sieben Staaten im Krieg befindet. Das Gedicht ergreift ihn so sehr, dass er es in sein Tagebuch schreibt, Wort für Wort. Zwei Strophen lauten:
O mein Deutschland, wie musst du stark sein
Wie gesund bis ins innerste Mark sein
Dass sich’s keiner allein getraut
Und nach Sechsen um Hilfe schaut.
 
Deutschland, wie musst du von Herzen echt sein
O wie strahlend hell muss dein Recht sein
Dass der mächtigste Heuchler dich hasst
Dass der Brite vor Wut erblasst.
    Und das Finale:
Morde den Teufel und hol dir vom Himmel
Sieben Kränze des Menschentums
Sieben Sonnen unsterblichen Ruhms.
    Die aufgepeitschte Rhetorik und der hohe Ton der Propaganda stehen in krassem Gegensatz zur tatsächlichen Lage. Es gibt sehr wohl Konflikte, aber keiner ist so unlösbar, dass der Krieg notwendig, geschweige denn so akut, dass er unausweichlich wäre. Unausweichlich wurde dieser Krieg erst in dem Augenblick, als er für unausweichlich gehalten wurde. Gerade wenn die Motive vage und die Ziele schwankend sind, wird die Energie gebraucht, die in den fetten, wohlschmeckenden Reden enthalten ist.
    Richard Stumpf schlürft sie ein und gerät ins Schweben, berauscht von Worten. Und um ihn herum schaukelt die grau gestrichene SMS Helgoland auf dem Wasser, ungeheuer schwer, abwartend. Einen Feind hat man noch nicht gesehen. An Bord ist eine gewisse Ungeduld zu spüren.

4.
    Dienstag, 25. August 1914
    Pál Kelemen erreicht die Front bei Halitsch
     
    Anfangs wurde er das Gefühl nicht los, dass es sich eigentlich nur um eine weitere Übung handelte. Alles hatte in Budapest begonnen. Pál erinnert sich, wie er unter den Blicken der Zuschauer sein Gepäck in eine Droschke lud und sich, in Husarenuniform mit roten Hosen, blauer Tunika, bestickter hellblauer Attila und hohen Lederstiefeln, durch die unübersehbare Menschenmenge auf dem Ostbahnhof drängelte und den Weg zu seinem Zug bahnte, um schließlich auf einem Stehplatz im Gang zu landen. Und er erinnert sich, wie die Frauen weinten. Eine wäre gestürzt, hätte sie nicht ein Fremder aufgefangen. Das Letzte, was er sah, als der Zug langsam anfuhr, war ein älterer Mann, der hinter dem Waggon herlief, um seinen Sohn noch einmal zu sehen.
    Nach der heißen, aber nicht allzu unbequemen Zugfahrt hatte er sich beim Husarenregiment in Szeben gemeldet – wie üblich; der Mann, der ihn empfing, hatte ihn im Übrigen keines Blickes gewürdigt, sondern nur gesagt, wohin er gehen sollte. Und später am selben Nachmittag hatte er sich in der strahlenden Augustsonne zum Mobilmachungsort in Erfalu begeben und dann Quartier bei einem Bauern genommen – wie üblich.
    Danach folgte Routine: Materialempfang, inklusive Pferd und Sattel, gegen Quittung; Ausbezahlung des Solds; ein langer, unerträglich langer Sermon über praktische Fragen in einem viel zu heißen Raum, wo die Leute ohnmächtig wurden, der Strom der Worte aber unaufhaltsam weiterfloss.
    Dann aber änderte

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