Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
sich das Bild.
Zuerst der Nachtmarsch zum Zug. Und die langsame Fahrt, auf der man an jedem Bahnhof von jubelnden Menschenmengen empfangen wurde: «Musik, Fackeln, Wein, Deputationen, Flaggen. Hurra auf die Armee! Hurra, hurra!» Dann das Ausladen, der erste Marsch. Aber noch kein eigentliches Zeichen von Krieg, etwa Geschützdonner; es hätte immer noch eine Übung sein können. Blauwarmer Himmel, Geruch von Pferdekot, Schweiß, Heu.
Pál Kelemen ist zwanzig Jahre alt, geboren in Budapest, wo er die Lateinschule besucht und unter dem später so berühmten Dirigenten Fritz Reiner Geige gespielt hat. In vieler Hinsicht ist Kelemen ein typisches Produkt des urbanen Mitteleuropa am Anfang des 20. Jahrhunderts: weitgereist, belesen, aristokratisch, ironisch, kultiviert, distanziert, ein Liebhaber der Frauen. Er hat an den Universitäten von Budapest, München und Paris studiert und sogar eine gewisse Zeit in Oxford verbracht. Als sie nach Stanislau hineinritten, eine Bezirksstadt im österreich-ungarischen Galizien (er ein junger, eleganter Husarenleutnant; gibt es etwas Eleganteres als einen ungarischen Husarenleutnant?), hatte er nicht zuerst an den Krieg, sondern an die Frauen gedacht. Er glaubt ihnen ansehen zu können, dass sie in einer Provinzstadt leben: «Ihre Haut ist weiß, sehr blass, und in ihren Augen ist eine funkelnde Glut.» (Dies im Gegensatz zu den Frauen in den Großstädten, deren Blicke müder seien, verschleierter.)
Erst als die Division Halitsch erreicht, bricht sie schließlich zusammen: die Illusion, dass dies vielleicht nur ein Manöver sein könnte.
Unterwegs sind ihnen Bauern und Juden begegnet, die sich auf der Flucht befinden. In der Stadt herrschen Unruhe und Verwirrung; es heißt, die Russen seien in der Nähe. Kelemen notiert in seinem Tagebuch:
Wir schlafen im Zelt. Um halb zwölf in der Nacht: Alarm! Die Russen nähern sich der Stadt. Ich glaube, alle haben ein wenig Angst. Ich werfe mich in meine Kleider und laufe hinaus, um mich meinem Zug anzuschließen. Auf der Straße haben sich Infanteristen postiert. Geschützdonner. Etwa fünfhundert Meter weiter vorn knattern Gewehre. Automobile rauschen vorüber. Die Lichter ihrer Karbidlampen ziehen sich in langer Reihe von Stanislau bis nach Halitsch.
Ich komme an den Wachtposten vorbei, klettere über den mit einer Hecke bewachsenen Zaun, vorbei an den Gräben am Fahrdamm. Mein Zug erwartet mich, aufgesessen, und wir sind bereit für weitere Befehle.
Als der Morgen graut, strömt die Bevölkerung in langen Kolonnen aus der Stadt. Auf Wagen, zu Fuß, zu Pferd. Jeder tut, was er kann, um sich selbst zu retten. Alle haben mitgenommen, was sie tragen können. Und auf allen Gesichtern sind Erschöpfung, Staub, Schweiß und Panik zu sehen, eine entsetzliche Mutlosigkeit, Qual und Leiden. Ihre Augen sind voller Angst, ihre Bewegungen zaghaft; ein furchtbarer Schrecken lastet auf ihnen. Es ist, als ob die Staubwolke, die sie aufwirbeln, an ihnen festklebt und nicht weiterziehen kann.
Ich liege schlaflos neben der Straße und betrachte dieses infernalische Kaleidoskop. Man sieht sogar Militärfahrzeuge, und in den Feldern sind Soldaten auf dem Rückzug zu erkennen, Infanterie in panikartiger Flucht, versprengte Reiterei. Niemand besitzt noch seine vollständige Ausrüstung. Das Gewimmel erschöpfter Menschen zieht sich durch das Tal. Man flieht zurück nach Stanislau.
Was er, am Straßenrand liegend, beobachtet, ist das Ergebnis eines der ersten blutigen, wirren Zusammenstöße mit den russischen Invasionsarmeen. Genau wie alle anderen Beteiligten hat er aber nur ein sehr unklares Bild von dem, was eigentlich geschehen ist, und es wird Jahre dauern, bis die verschiedenen Impressionen zu dem verschmelzen, was man die Schlacht bei Lemberg nennt. Aber um zu verstehen, dass diese Schlacht zu ebenso gewaltigen wie überraschenden Verlusten für die österreichisch-ungarische Armee führte, braucht man kein Generalstabswerk.
5.
Mittwoch, 2. September 1914
Andrej Lobanov-Rostovskij sieht, wie sich in Mokotów die Sonne verdunkelt
Jetzt sind sie an der Reihe, zum Einsatz zu kommen. Die Berichte sind widersprüchlich. Oben in Ostpreußen scheint etwas ernstlich schiefgelaufen zu sein bei der russischen Invasion. Rennenkampfs Armee ist offenbar auf dem Rückzug und die von Samsonow auf der Flucht. Das kann doch nicht stimmen! Unten in Galizien haben die russischen Invasionstruppen scheinbar mehr Erfolg. Lemberg kann jeden Moment fallen.
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