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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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immer wieder auf die Schulter klopft, wie er von den Umstehenden umarmt und geküsst wird. Sie will ihm zurufen: «Hallo, Leutnant Schön!» Aber sie wagt es nicht.
    Die Musik spielt, die Menge lässt Hüte und Taschentücher flattern, der Zug mit den Reservisten in Zivil pfeift und fährt los, alle schreien hurra und rufen und winken. Bald werden auch die Hundertneunundvierziger abfahren. Elfriede hüpft herunter vom Zaun, wird aber von der Menge verschluckt und hat das Gefühl, zermalmt zu werden. Sie sieht eine alte Frau mit verweinten Augen, die herzzerreißend ruft: «Paulchen! Wo ist mein Paulchen? Lasst mich doch noch mal meinen Sohn sehen!» Elfriede weiß nicht, wer Paul ist, sie wird gleichsam überrollt von einer Masse von Rücken und Armen und Bäuchen und Beinen. Erschüttert oder vielleicht nur dankbar, dass sie in diesem Gewimmel von Bildern und Geräuschen und Gefühlen etwas hat, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten kann, spricht sie ein schnelles Gebet, während sie dort eingeklemmt steht: «Lieber Gott, behüte diesen Paul! Gib ihn der Frau zurück! Ich bitte, bitte, bitte dich!»
    Sie sieht die Soldaten vorbeitrampeln, und neben ihr streckt ein kleiner Junge seine Hand durch die kalten Gitterstäbe des Eisenzauns: «Du, Soldat, adieu!» Einer der Graugekleideten nimmt die ausgestreckte Hand und schüttelt sie: «Adieu, Brüderlein!» Alle lachen, die Kapelle spielt «Deutschland, Deutschland über alles», einige singen mit, und eine lange, mit Blumen geschmückte Wagenreihe fährt quietschend auf Bahnsteig 1 ein. Ein Trompetensignal ertönt, und die Soldaten steigen sofort in den Zug. Flüche, Scherze, Kommandos. Ein Nachzügler läuft an Elfriede, die hinter dem Zaun steht, vorbei. Sie fasst sich ein Herz, streckt die Hand aus und murmelt ein schüchternes «Leb wohl!». Er sieht sie, lacht und ergreift im Vorübergehen ihre Hand: «Wiedersehen, Mädel!»
    Elfriede schaut ihm nach. Sie sieht ihn in einen der Güterwagen klettern. Sie sieht, wie er sich umdreht und ihr einen Blick zuwirft. Der Zug ruckt an, fährt erst nur langsam, dann immer schneller.
     
Das Hurrarufen schwoll zu einem Brausen an, die Gesichter der Soldaten drängten sich in den offenen Türen, Blumen flogen durch die Luft, und auf einmal fingen viele Menschen auf dem Platz an zu weinen.
«Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen in der Heimat!»
«Keine Angst! Wir sind bald wieder zu Haus!»
«Weihnachten feiern wir bei Muttern!»
«Ja, ja, ja! Auf gesundes Wiedersehen!»
     
    Und aus dem fahrenden Zug steigt ein mächtiger Gesang auf. Sie erfasst nur einen Teil des Refrains: «In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn!» Dann verschwinden die Wagen in der Nacht. Sommerdunkel. Warme Luft.
    Elfriede ist ergriffen. Sie geht nach Hause, tränenerstickt. Im Gehen streckt sie die Hand, die der Soldat geschüttelt hat, vor sich aus, als hielte sie darin etwas sehr Kostbares und zugleich sehr Zerbrechliches. Als sie die matt erleuchtete Haustreppe zur Alten Bahnhofstraße 17 hinaufsteigt, küsst sie die Hand, schnell.

2.
    Samstag, 8. August 1914
    Herbert Sulzbach wird beim Feldartillerieregiment 63 in Frankfurt angenommen
     
    Es sind Tage voller Aufregung gewesen, großer Aufregung. Und einer gewissen Beunruhigung. Schon in den letzten Julitagen hatte er begonnen, sich von seiner Arbeit in der Bank fortzustehlen, um sich in die Menschenmassen zu drängen, die vor den Zeitungsdruckereien versammelt waren. Und als dann die Nachricht von der Mobilmachung kam, stimmte er in den allgemeinen Jubel mit ein. Das Gefühl, sich gegen einen ungerechten Angriff zu verteidigen, erfüllt die Leute mit einer «unerhörten Kraft»: «Es ist mir beim besten Willen nicht möglich, die Stimmung und Begeisterung wiederzugeben.»
    Sein Name ist Herbert Sulzbach, zwanzig Jahre alt und wohnhaft in Frankfurt am Main. Die Familie ist jüdisch, aber großbürgerlich, assimiliert, liberal. Herberts Großvater gilt als einer der Begründer der Deutschen Bank und soll, als der Kaiser ihm den Adelstitel anbot, abgelehnt haben. Von Herbert wird erwartet, dass er sich im Familienunternehmen engagiert. Es war vorgesehen, dass er im Oktober nach Hamburg ziehen und als kaufmännischer Volontär anfangen sollte. Der Krieg ist dazwischengekommen.
    Doch Herbert betrachtet sich nicht als Opfer einer Katastrophe. Schon vor Ausbruch des Krieges hat er davon geträumt, auf diesen Umzug nach Hamburg zu pfeifen, auf die Karriere zu pfeifen, die ihn im

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