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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Aber obwohl die Verstärkungen eigentlich eher gegen die Deutschen im Norden gebraucht werden als gegen die Österreicher in Galizien, ist Lobanov-Rostovskijs Schützenbrigade für die südliche Front bestimmt. Man soll helfen, die bereits zurückweichenden österreichisch-ungarischen Divisionen an der polnischen Grenze aufzureiben.  5
    Gegenwärtig stehen sie als Reserve in Warschau und kampieren auf einem großen Feld in Mokotów. Andrej Lobanov-Rostovskij ist Pionier in der russischen Armee  6 und Gardeleutnant, ein Rang, den er eher seiner Herkunft als seiner Eignung verdankt. Er ist nämlich ein feingeistiger Zweiundzwanzigjähriger, der ständig liest, vor allem französische Romane, aber gern auch historische Werke. Lobanov-Rostovskij, Diplomatensohn, hat eine gute Ausbildung (er hat Jura studiert, nicht nur in St. Petersburg, sondern auch in Nizza und Paris), einen etwas ängstlichen Charakter und ist körperlich nicht besonders robust.
    Der Ausbruch des Krieges war für ihn ein merkwürdiges Erlebnis gewesen. In jeder freien Stunde war er in die Stadt gelaufen, um im Gedränge mit all den anderen aufgeregten Menschen an den Aushängen der Zeitungsredaktionen Flugblätter und Telegramme zu lesen. Die Begeisterung hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Nachricht eintraf, dass Belgrad beschossen worden sei, und es gab spontane Demonstrationen für den Krieg, auf denselben Straßen, die vor nur wenigen Tagen spontane Kundgebungen von Streikenden erlebt hatten. Er hatte gesehen, wie die Menge Straßenbahnen anhielt und Offiziere herauszerrte, nur um sie unter Hurrarufen in die Luft zu werfen, und besonders erinnert er sich an einen betrunkenen Arbeiter, der einen vorbeigehenden Offizier umarmte und küsste, während alle lachten. Der August ist ein staubiger Monat und ungewöhnlich heiß gewesen, und obwohl er wie alle Offiziere die langen Märsche zu Pferd gemacht hat, wäre er in der Hitze fast kollabiert.
    An Kampfhandlungen hat er bisher noch nicht teilgenommen. Das Schlimmste, was er gesehen hat, war ein großer Brand, der in einer kleinen polnischen Stadt ausbrach, in der sie Quartier genommen hatten, und bei dem die gerade mobilisierten Soldaten in der Erregung und der Angst vor Spionen acht Juden unter dem Vorwand umbrachten, sie hätten die Löscharbeiten zu verhindern versucht.  7 Es hatte ganz allgemein eine angespannte Atmosphäre geherrscht.
    Um zwei Uhr stellt sich die ganze Brigade auf dem Feld auf, vor den vielen kleinen Zelten. Es ist Zeit für den Gottesdienst. Während der Messe geschieht etwas Merkwürdiges. Die Sonne verdunkelt sich. Als sie zum Himmel aufblicken, sehen sie, was es ist: eine partielle Sonnenfinsternis. Die meisten finden es ein bisschen unheimlich. Auf die Soldaten, die besonders abergläubisch sind, macht das Schauspiel «einen unerhörten Eindruck».
    Unmittelbar nach dem Gottesdienst folgt der Aufbruch. Alle Einheiten der Brigade werden auf Züge verladen. Das Ganze dauert (wie üblich) länger als vorgesehen. Als Lobanov-Rostovskijs Einheit an die Reihe kommt, ist schon Nacht. Auch als sie endlich verladen sind, geht es kaum schneller. Der Zug rollt sehr gemächlich durch die Dunkelheit nach Süden. Das haben alle Züge von 1914   gemeinsam: die Langsamkeit. Manchmal bewegen sich diese Waggons mit der Geschwindigkeit eines Fahrrades.  8 Die Eisenbahnstrecken sind nämlich voll ausgelastet, die Züge haben in dieser Phase des Krieges oft nur ein einziges Ziel: die Front.  9
    Nicht zum ersten Mal bleibt Lobanov-Rostovskij auf einer Eisenbahnlinie stecken, auf der die Truppenzüge buchstäblich Schlange stehen. Für fünfundzwanzig Kilometer brauchen sie vierundzwanzig Stunden. Die Schienenstöße klappern einen ungewöhnlich langsamen Takt. Marschieren wäre deutlich schneller gegangen, aber Befehl ist Befehl.
***
    Am selben Tag schreibt Herbert Sulzbach in sein Tagebuch:
     
Um 3.45 Uhr morgens Wecken; dann feierlicher Gottesdienst und um 8 Uhr der langersehnte Abmarsch nach knapp vier Wochen Ausbildung. Wir gehören zu den wenigen und ersten Freiwilligen, die schon an die Front kommen. Wir werden am Güterbahnhof verladen, und eine eigenartige Stimmung überkam mich, zusammengesetzt aus Glück, Erhebung, Stolz und Abschiedsempfindung und dem Bewusstsein der Größe dieser  Stunde. Wir zogen in geschlossener Formation, 3 Batterien, durch die Stadt, von der Bevölkerung bejubelt.

6.
    September 1914
    Florence Farmborough sieht in Moskau zum ersten Mal einen

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