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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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klarer in der sommerlichen Abendluft. Ihr Bruder ruft: «Sie kommen! Es sind die Hundertneunundvierziger!»
    Sie sind es, auf die alle warten: das Infanterieregiment 149, die Truppe der Stadt. Sie soll an die Westfront. «Die Westfront», ja, ein neues Wort. Bis zu diesem Tag hat Elfriede davon noch nie gehört. Der Krieg geht ja gegen die Russen, das weiß doch jeder; die deutsche Armee hat mobilgemacht, um der russischen Mobilisierung zu begegnen, und die Russen werden gewiss bald angreifen.  1 Hier in der preußischen Provinz Posen ist es vor allem die Bedrohung aus dem Osten, die die Gemüter bewegt, da bildet Schneidemühl keine Ausnahme. Die russische Grenze ist weniger als einhundertfünfzig Kilometer entfernt, zudem führt die Hauptstrecke Berlin – Königsberg durch die Stadt, was sie vermutlich zu einem Ziel für den mächtigen Feind im Osten macht.
    Für die Menschen in Schneidemühl gilt ungefähr das Gleiche wie für die Politiker und Generäle, die Europa – suchend, tastend und stolpernd – in den Krieg geführt haben: Es gibt Informationen, aber sie sind fast immer unvollständig oder veraltet, und die fehlenden Fakten werden ersetzt durch Vermutungen, Annahmen, Hoffnungen, Ängste, fixe Ideen, Verschwörungstheorien, Träume, Albträume, Gerüchte. Hier in Schneidemühl genauso wie in Zehntausenden anderen Städten und Dörfern auf dem Kontinent wird das Bild der Welt aus diesem flüchtigen Stoff geformt, vor allem aus Gerüchten.
    Elfriede Kuhr ist zwölf Jahre alt, ein unruhiges und aufgewecktes Mädchen mit rotblonden Zöpfen und grünen Augen. Sie hat gehört, dass französische Flugzeuge Nürnberg bombardiert haben, dass eine Eisenbahnbrücke bei Eichenried angegriffen worden ist, dass russische Truppen auf Johannisburg zumarschieren, dass russische Agenten versucht haben, in Berlin den Kronprinzen zu ermorden, dass ein russischer Spion versucht hat, die Flugzeugfabrik am Rande der Stadt in die Luft zu sprengen, dass ein russischer Agent die städtische Wasserversorgung mit Cholera verseuchen und ein französischer Agent die Brücken über die Küddow sprengen wollte.
    Nichts von alledem stimmt, aber das wird erst später klar. Im Augenblick scheinen die Leute bereit zu sein, alles Mögliche zu glauben, wenn es nur unglaublich genug ist.
    Die Menschen in Schneidemühl halten den Krieg wie die meisten anderen Deutschen letztlich für einen Verteidigungskrieg, der dem Land aufgezwungen wurde, sodass man keine andere Wahl hatte, als ihn anzunehmen. Sie sind, genauso wie die Menschen der Städte und Dörfer in Serbien, Österreich-Ungarn, Russland, Frankreich, Belgien und in Großbritannien, alle erfüllt von Angst und von Hoffnungen und nicht zuletzt von einem leidenschaftlichen Gefühl, im Recht zu sein, denn jetzt steht ein schicksalhafter Kampf gegen die Mächte der Finsternis bevor. Eine Flutwelle der Gefühle geht über Schneidemühl, Deutschland und Europa hinweg und reißt alle mit sich. Was wir als düster empfinden, ist für sie wie eine Erleuchtung.
    Elfriede hört ihren Bruder rufen, und schon sieht sie es selbst. Dort kommen Soldaten in Reih und Glied, in feldgrauen Uniformen, kurzen Stiefeln aus hellem, ungegerbtem Leder, mit großen Tornistern und Pickelhauben mit grauem Stoffüberzug. Vorweg marschiert eine Militärkapelle, und als sie sich jetzt dem Bahnhof und der Menschenmenge nähern, stimmen sie die Melodie an, die alle so gut kennen. Die Soldaten singen, und beim Refrain fallen die Zuschauer sofort mit ein. Das Lied dröhnt durch den Augustabend:
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!  2
    Die Luft ist erfüllt von Trommelschlägen, Stiefelklappern, Gesang und Hurrarufen. Elfriede notiert in ihrem Tagebuch:
     
So kamen die Hundertneunundvierziger Schulter an Schulter und überfluteten den Bahnsteig wie eine graue Welle. Alle Soldaten trugen um Hals und Brust lange Gewinde aus Sommerblumen. Selbst in den Gewehrläufen steckten Sträuße von Astern, Levkojen und Rosen, als wollten sie den Feind mit Blumen beschießen. Die Gesichter der Soldaten waren ernst. Ich hatte gedacht, sie würden lachen und jubeln.
     
    Trotzdem sieht Elfriede einen lachenden Soldaten, einen Leutnant, den sie kennt. Er heißt Schön, und sie beobachtet, wie er sich von seinen Verwandten verabschiedet und dann durch die Menschenmenge drängt. Sie sieht, wie man ihm

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