Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
die Quellen der alten Griechen, aber wir können sicher sein, dass ihre Sagen und Epen sowohl von realen (zufälligen) Ereignissen beeinflusst waren als auch von bereits vorher existierenden Mythen und Geschichten. Goethe konnte unter anderem auf Shakespeare zurückgreifen und der auf die großen Dichter des Mittelalters und der Antike. J. R. R. Tolkien, der mit seinem »Herrn der Ringe« eine ganze Literaturgattung erschuf, hat sich bei Shakespeare, bei den alten Griechen und im Fundus der Volksmärchen bedient.
Goethes »Faust« gilt als eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur. Doch die ursprüngliche Geschichte stammt nicht von Goethe. Sie hatte vor seiner Zeit bereits eine lange literarische Tradition. Die Legende geht zurück auf eine reale Person, die im späten Mittelalter als Sterndeuter und selbsternannter Magier durch die Lande zog. Wie in der damaligen Zeit nicht unüblich, bezichtigte man ihn, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, allerdings endete er vermutlich nicht auf dem Scheiterhaufen. 1587, etwa 40 bis 50 Jahre nach seinem Tod, veröffentlichte der Buchdrucker Johann Spies die »Historia von D. Johann Fausten«. Der englische Dramatiker Christopher Marlowe machte daraus die erste Theaterfassung, »Die tragische Historie vom Doktor Faustus«. Danach wurde das Werk vielfach aufgeführt und bearbeitet, unter anderem in einigen Szenen von Lessing, Goethes großem Vorbild. Goethe veröffentlichte 1808 mit dem »Urfaust« seine eigene Version der Geschichte und fügte ihr 16 Jahre später noch einen zweiten Teil hinzu. Während er dieses Werk schrieb, waren andere Versionen derselben Geschichte populäre Volksunterhaltung.
All das schmälert Goethes literarische Leistung natürlich nicht, es rückt sie nur ins rechte Licht: Faust entsprang nicht einer einzigen genialen Eingebung, sondern basierte auf einer langen Kette von Bearbeitungen einer jahrhundertealten Geschichte, deren Urform heute nur noch die Literaturwissenschaftler kennen. Goethes Leistung besteht nicht in der Erfindung der Geschichte, sondern in ihrer Bearbeitung
- in der Mutation. Auch nachdem er sein »Faust-Mem« mutiert und reproduziert hatte, versuchten sich andere an weiteren Mutationen der Geschichte, darunter Heinrich Heine, Theodor Storm und Thomas Mann. Keine dieser Bearbeitungen des Faust-Stoffs hat jedoch jemals wieder eine solche Bedeutung erlangt wie die von Goethe.
In der Physik gibt es den Satz, dass Energie oder Materie nicht »aus Nichts entstehen« können. Das gilt im Prinzip auch für Meme - egal ob literarische oder wissenschaftliche.
Betrachten wir ein weiteres Beispiel. 2009 war das »Darwin-Jahr«. Der »Begründer der Evolutionstheorie« wäre am 12. Februar 200 Jahre alt geworden, und sein berühmtestes Werk, »Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl«, wurde 150 Jahre zuvor veröffentlicht. Aus der Flut von Büchern, Veröffentlichungen und Fernsehbeiträgen zu diesem Thema musste der uninformierte Beobachter den Eindruck gewinnen, Darwin sei als Erster auf die Idee gekommen, dass es in der Natur eine allmähliche Entwicklung und Veränderung von Tier- und Pflanzenarten gibt, die sich so besser an die Lebensbedingungen anpassen. Aber das stimmt nicht.
Der griechische Philosoph Anaximander glaubte beispielsweise bereits im 6. Jahrhundert vor Christus, dass sich der Mensch aus tierischen Vorfahren entwickelt habe, dass das Leben ursprünglich im Meer entstanden sei und irgendwann die ersten Lebensformen an Land gekrochen seien.
Charles Darwin hat wesentliche Gedanken von seinem eigenen Großvater Erasmus Darwin übernommen, der schon 1794, mehr als 60 Jahre vor der Veröffentlichung der »Entstehung der Arten«, in seiner »Zoonomia« schrieb: »Wenn man also über die große Ähnlichkeit der warmblütigen Tiere nachdenkt und gleichzeitig über die großen Veränderungen, die sie vor und nach der Geburt durchlaufen ... wäre es dann zu gewagt, sich vorzustellen, dass alle warmblütigen Tiere von einem einzigen Wesen abstammen ... die Fähigkeit besitzend, durch eigene Aktivität sich selbst zu verbessern und diese Verbesserungen an nachfolgende Generationen weiterzugeben bis ans Ende der Zeit?«
Zur selben Zeit machten sich viele Naturwissenschaftler Gedanken über die Entstehung der verschiedenen Lebensformen. Der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck entwickelte bereits um 1800 eine Theorie der Entstehung der Arten durch Vererbung und Mutation. Er ging allerdings fälschlicherweise davon
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