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Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Titel: Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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Nachkommen ersetzt. Also setzen sich solche Meme in der Evolution durch, die eine Art Immunsystem gegen Mutation entwickelt haben, ganz ähnlich, wie Gene beim Prozess der Zellteilung durch raffinierte Mechanismen weitgehend vor Kopierfehlern geschützt werden.
    Der Absolutheitsanspruch, verbunden mit der Androhung von weltlichen oder überirdischen Konsequenzen bei seiner Verletzung, ist ein besonders wirksamer Stabilisator für Meme. Also setzen sich Religionen, Philosophien und politische Systeme mit Absolutheitsanspruch in der Evolution durch.
    Dieser simple Zusammenhang ist der wesentliche Grund für Jahrtausende voller Leid und Elend, von der Sklavenarbeit beim Bau der ägyptischen Pyramiden über zahllose Religionskriege bis zu Völkermorden und den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
    Es ist faszinierend zu untersuchen, mit welchen Methoden sich Meme gegen Mutationen wehren. Besonders wirkungsvoll scheinen hierbei Rituale zu sein. Wiederkehrende, offenbar sinnlose Tätigkeiten wie das Aufsagen auswendig gelernter Texte, das Marschieren in Reih und Glied oder das Brüllen von Parolen festigen Meme, so wie dauerhaftes Training den wirkungsvollen Aufschlag eines Tennisspielers festigt.
    Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass sich Nervenverbin-dungen, genau wie Muskeln, umso mehr verstärken, je öfter wir sie benutzen. Umgekehrt vergessen wir unbenutztes Wissen, so wie unbenutzte Muskeln degenerieren. Rituale dienen dazu, Meme durch häufigen Gebrauch physisch in unser Gehirn »einzugravieren«, bis sie so tief darin verankert sind, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, dass sie falsch sein könnten.
    Je strenger die Rituale, desto größer diese Wirkung und desto geringer ist die Gefahr, dass ein Individuum aus der Konformität des jeweiligen memetischen Systems ausbricht und die Regeln verletzt. Allerdings wirken sehr strenge Rituale abschreckend auf Außenstehende, so dass sich beispielsweise die asketischen Lebensregeln mancher Klöster nicht überall durchsetzen können. Doch gerade religiöse und politische Fanatiker sind oft sehr strengen Ritualen unterworfen. Sie konditionieren sich selbst bewusst oder unbewusst, bis sie sogar ihren Selbsterhaltungstrieb im Glauben an die »höhere Sache« - das Mem - überwinden können. Besonders junge Menschen sind für diese Art von Gehirn-Konditionierung anfällig, weil sich noch nicht so viele »Erfahrungskanäle« in ihren Gehirnen gebildet haben, die erst durch die Rituale »überschrieben« werden müssten.
    Die Liste der Meme, die sich mit Hilfe von Ritualen in den Köpfen der Menschen festsetzen, ist lang, und leider sind nur wenige darunter, denen man etwas Positives abgewinnen kann. Beispiele für gutartige Rituale sind etwa die Anfeuerungsrufe von Fußballfans oder das Mem, sich gegenseitig zum Geburtstag und zu Weihnachten eine Überraschung zu bereiten und sich so seiner Zuneigung zu versichern.
    Die weitaus überwiegende Zahl der Rituale dient jedoch dazu, Meme zu stabilisieren, die von allen, die diese Rituale nicht vollziehen, mit Skepsis oder Ablehnung betrachtet werden. Und das hat einen ganz einfachen Grund: Nur Meme, die nicht wahr oder beweisbar sind, müssen sich mit Hilfe von Ritualen gegen Mutation wehren.
    Man stelle sich eine Versammlung von Mathematikstudenten vor, die sich an einem dunklen, stillen Ort tref-fen und immer wieder folgendes Mantra murmeln: »Wenn A größer ist als B und B größer als C, dann muss A größer als C sein.« Diese Vorstellung ist vor allem deshalb lächerlich, weil niemand diesen logischen Satz anzweifeln würde. Es ist nicht nötig, sich selbst immer wieder zu versichern, dass der Satz wahr ist - man weiß es einfach.
    Der Umkehrschluss ist, dass ein Mem umso weniger absolut wahr ist, je mehr es durch Rituale verstärkt wird.
    Möglicherweise verletzt dieser Satz die Gefühle vieler Menschen. Daher soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass ein Mem nicht zwingend unwahr sein muss, bloß weil es Gegenstand eines Rituals ist. Aber wenn ein Mem nachprüfbar wahr ist, dann braucht es kein Ritual, um gegen Mutationen geschützt zu sein. Und es braucht keinen Absolutheitsanspruch, der unter Androhung von Strafen oder himmlischen Sanktionen verteidigt werden muss.
    Es hat bei großen wissenschaftlichen und kulturellen Veränderungen immer wieder Abwehrreaktionen der bisher vorherrschenden Ansichten gegeben. Meme verteidigen sich gegen Eindringlinge von außen, so wie sich Lebewesen gegen fremde Arten

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