Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
Petersburg« sehr genau analysiert und gezeigt, dass es mehrere Entwürfe der Handlung gab, die sich schrittweise - durch Mutation und Selektion - der endgültigen Fassung angenähert haben.
Doch damit ist die evolutionäre Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Praktisch jeder Autor verändert das Grundgerüst der Geschichte, während er schreibt. Dabei passiert manchmal etwas sehr Interessantes: Die Figuren beginnen eine Art Eigenleben zu entwickeln. Viele Autoren berichten von diesem Effekt, auch ich selbst habe ihn schon oft erlebt.
Man setzt sich hin, entwirft eine Rahmenhandlung, fängt an zu schreiben, und plötzlich »weigert« sich eine Figur, das zu tun, was sie tun muss, damit die Handlung wie geplant weitergeht. Stattdessen macht sie etwas Un-vorhergesehenes - das heißt, dem Autor wird in diesem Moment klar, dass eine ganz andere Handlung viel besser zum Charakter der Figur passt. Manchmal führt das dazu, dass die Geschichte einen völlig anderen als den geplanten Verlauf nimmt.
Das Phänomen ist einfach zu erklären: Jede Geschichte lebt davon, dass die handelnden Figuren überzeugend sind und das tun, was ihrem Charakter entspricht. Das muss nicht immer genau das sein, was sich der Autor vorgestellt hat, um die Geschichte voranzutreiben. Beispielsweise kann ich eine Figur erfinden, die Höhenangst hat, und sie auf die Spitze eines Turms jagen, wo sie sich dem Bösewicht stellen muss. Aber wenn ich der Figur nicht einen wirklich zwingenden Grund gebe, auf den Turm zu klettern, wird sie es einfach nicht tun. Jedenfalls nicht, bloß weil in meinem Handlungsentwurf steht, dass das dramatische Finale auf der Turmspitze stattfindet und damit endet, dass der Bösewicht zu Tode stürzt.
Ich kann zwar schreiben: »Jim kletterte die zweihundertdreiundfünfzig Stufen hinauf bis zur Turmspitze.« Doch wenn ich Jim keinen überzeugenden Grund gegeben habe, das zu tun, wird der Leser sagen: »Moment mal, wieso klettert der jetzt plötzlich einfach so da rauf? Ich dachte, der hat Höhenangst!« Die Geschichte ist dann unglaubwürdig, und der Leser ist »draußen«.
Also muss ich mich als Autor dem »Willen« meiner Figuren beugen und die Geschichte so umschreiben, dass Jim seine Höhenangst überwinden kann.
Das Beispiel soll zeigen, dass das Schreiben einer Geschichte kein vollständig planbarer und zielgerichteter Prozess ist. Einige Autoren, wie etwa Stephen King oder Ray Bradbury, gehen nach eigenem Bekunden sogar so weit, nur die Figuren zu definieren und dann einfach draufloszuschreiben. Ihre Geschichten entwickeln sich quasi von selbst aus den Beziehungen der handelnden Personen untereinander.
Man könnte argumentieren, das habe nichts mit Zufall zu tun, vielmehr sei hier das Unterbewusstsein des Autors im Spiel. Doch was immer das »Unterbewusstsein« genau sein mag - der Zufall spielt auf jeden Fall eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Geschichten. Ich selbst bekomme Ideen für meine Romane aus vielen zufallsabhängigen Quellen. Zum Beispiel aus persönlichen Erlebnissen, Beobachtungen auf der Straße oder in einem Einkaufszentrum, Zeitungsartikeln und natürlich aus anderen Büchern. Welche Bücher ich lese, ist ebenfalls weitgehend zufallsgetrieben. Zwar gibt es Autoren, die ich mag, und Themen, für die ich mich interessiere, aber trotzdem kaufe ich Bücher sehr häufig spontan, wenn ich sie irgendwo liegen sehe. Manchmal ist es nur der Buchdeckel, der mich anspricht, manchmal bekomme ich ein Buch von einem Freund empfohlen oder geschenkt, oder ich folge einer Empfehlung meines Online-Buchhändlers, der meinen Geschmack sehr genau kennt. Am Ende ist das Ideenreservoir, aus dem ich schöpfen kann, in hohem Maße durch zufällige Ereignisse gefüllt.
Fast jede moderne Geschichte ist von den Dramen der Griechen, von Shakespeare oder Goethe beeinflusst, denn diese Genies wussten bereits genau, wie man eine perfekte Geschichte erzählt. In meinem Roman »Das System« finden sich zum Beispiel Anklänge an Goethes »Zauberlehrling« wieder - auch in meinem Buch geht es darum, dass wir die Technik, die wir riefen, nicht wieder loswerden und dass sie sich gelegentlich unserem Willen widersetzt. Im Grunde ist das auch das zentrale Thema dieses Buches.
Woher hatten Goethe und andere große Schriftsteller ihre Ideen? Aus der Distanz betrachtet wirkt es oft so, als seien die Leistungen der Genies mehr oder weniger aus dem Nichts entstanden. Aber das ist natürlich nicht so. Wir wissen nicht viel über
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