Schottische Disteln
Hause. Jeder soll so gut wie möglich heute Nacht und morgen auf seine Familie und auf sein Vieh aufpassen, die Frauen und Kinder sollen zu Hause bleiben, und morgen Abend kommen alle wieder hierher. Ich denke, bis dahin habe ich die Geräte. Vor allen Dingen musst du die Vorfälle aber der Polizei melden. Ganz egal, ob sie uns helfen kann oder nicht, wir müssen Anzeige erstatten. Und wenn ihr heute Nacht Streife fahrt, dann seht auch immer mal bei mir vorbei, denn ich fahre direkt von hier aus nach Aberdeen.«
Zögernd nur, aber nach und nach von der Bedeutung der Nachtwachen überzeugt, verließen die Männer den Pub, und die Autos fuhren davon. Ein paar Biere noch, ein paar Whisky, dann war bis auf Ryan und Billy, den Wirt, niemand mehr in der Gaststube.
»Ich brauche Sprit für meinen Wagen, kannst du mir noch etwas verkaufen?«
»Klar, komm mit raus.«
Neben dem Pub betrieb der Wirt die einzige Tankstelle im Ort. Ryan fuhr vor, und während der Treibstoff in den Tank floss, fragte Billy: »Und du willst heute Nacht nach Aberdeen?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Nein, aber wen kennst du denn da? Der Mann muss ja stinkreich sein, wenn er so eben mal sechzig Funkgeräte locker machen kann.«
»Ich will sie ja nur leihen.«
»Trotzdem, so was hat man doch nicht mitten in der Nacht unterm Kopfkissen liegen.«
»Nein, ich fahr in eine Werft. Da kenn ich einen Arbeiter, und der wird‘s schon möglich machen.«
»Klauen etwa?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Na, da bin ich aber gespannt.«
»Warte bis morgen. Und mit dem Bezahlen vom Sprit auch, ja? So viel Geld habe ich jetzt nicht bei mir.« Ryan zeigte auf seine leeren Hosentaschen. Dabei entdeckte Billy den Revolver. »Mensch, Ryan, mach keinen Mist mit der Knarre. Hast du überhaupt einen Waffenschein dafür?«
»Natürlich. Und du kannst beruhigt sein, ich lege so schnell keinen um. Aber stell dir mal vor, mir rollt in der Finsternis der Motorradfahrer über den Weg, da ist so eine Kanone eine große Beruhigung. Übrigens, ich habe noch eine Bitte: Geh morgen als Erstes zum Schmied und sag ihm, Linda soll nicht zum Putzen kommen. Ich möchte nicht, dass sie allein mit dem Rad unterwegs ist.«
»Hältst du die ganze Sache wirklich für so gefährlich?«
»Ja, ich fürchte, wir haben großen Ärger am Hals. So, und nun verschließ alles gut und drück mir die Daumen. Wir sehen uns morgen Abend wieder.«
»Ist klar. Gute Fahrt, Ryan. Und dreh keine krummen Dinger in Aberdeen.«
IV
Andrea liebte das Dorf in der Nordheide. Freunde, die sie oft besuchte, lebten dort, und die Pferde – es gab kaum einen Hausbesitzer ohne Stall auf seinem Grundstück – hatten es ihr besonders angetan. Sie freute sich auf diesen Tag, denn einmal in jedem Jahr lief das Heidedorf zu Höchstformen auf: Das war die Zeit der Vielseitigkeitsreiterei. Zwei Europameisterschaften und eine Weltmeisterschaft waren schon in Luhmühlen ausgetragen worden, und auf die Olympiade hoffte man. Aber so weit war es noch nicht. Stattdessen machten sich die Veranstalter und mit ihnen alle Bewohner des Dorfes Jahr für Jahr einen Namen als ideale Reitsportstätte. Da half jeder jedem, und auch Andrea hatte in früheren Jahren schon Brötchenhälften für ehrenamtliche Mitarbeiter geschmiert.
Seit halb sechs herrschte Hochbetrieb in den Stallungen und in den Spezialzelten, die zusätzliche Pferdeboxen bereithielten. Es wurde gefüttert, geputzt, geflucht, bandagiert und diskutiert. Man umarmte sich aus Wiedersehensfreude, und man schrie sich an aus Nervosität – Hektik bestimmte die Atmosphäre.
In der Reiterzentrale wurden ein letztes Mal die Strecken, die Zeiten, die Hindernisse und die Schwierigkeiten besprochen. Die Pferde waren sensibel, die Trainer nervös, die Reiter müde und die Pferdepfleger, oft Mädchen, schüttelten das Stroh aus der Kleidung. Die meisten hatten bei »ihren« Pferden die Nacht verbracht.
Andrea drängte sich durch das Gewühl und hinüber zur Meldestelle, in der die Startnummern ausgegeben wurden. Hier war sie mit Mark, dem Equipechef der britischen Mannschaft, verabredet. Eigentlich war das Betreten der Stallungen verboten, aber mit den Unterlagen für ihren Auftrag hatte man ihr einen Sonderausweis ins Fotostudio geschickt, mit dem sie sich auch in abgesperrten Zonen bewegen durfte. Peter allerdings musste auf dem Parkplatz warten.
Das Wetter war gut. Nach den heftigen Gewitterschauern vom Vortag, die auch hier ihre Spuren hinterlassen hatten,
Weitere Kostenlose Bücher