Schottische Disteln
nicht. Da gab es immer das Gefühl von Pflichtbewusstsein im Hintergrund, von gesellschaftlicher Bindung, die eingehalten, von sozialer Verantwortung, die befolgt werden musste. Sie schloss die Augen und träumte vor sich hin, und sie sah sich in diesem Winkel der Welt, fröhlich, unbelastet, losgelöst und locker, und irgendwo gab es da einen Mann, der genauso aussah wie Ryan und der zu ihr gehörte. Ein Schäfer, dachte sie, aber weshalb nicht? Zu so einem Leben würde dann auch ein Schäfer passen. Und der Mann, der sich unter dem großen Schlapphut und hinter dem Geruch nach Schafen verbarg, der würde ihr durchaus gefallen.
Ryan beobachtete sie von der Tür aus. Er sah Licht und Schatten über ihr Gesicht huschen und ein Lächeln, das sein Herz erwärmte, und ihn drängte es, diesen Mund zu küssen und das Mädchen nie mehr loszulassen. Aber er war ein gebranntes Kind, was Frauen betraf, und er war vorsichtig geworden.
So blieb er einfach stehen und sah zu, wie sich ihre Träume im Gesicht widerspiegelten, und er ahnte nicht, dass es die gleichen Träume waren, die nun ihn überfielen: Wie schön musste es sein, hier mit Andrea zu leben, einfach, bescheiden, nur sie beide, die Schafe und die Hunde. Und das Wetter und das Land natürlich, dachte er und setzte sich auf die Schwelle, um Andrea nicht zu stören. Was hinderte ihn eigentlich daran, das zu tun, was er wollte? Er besaß Geld genug, er verfügte über kompetente Mitarbeiter, die sein Imperium leiten konnten, er hatte alles, was er wollte, um ein sorgenfreies Leben nach seinem Geschmack zu führen.
Nur Andrea hatte er nicht, und die Unbekümmertheit, alles hinzuwerfen und die Freiheit zu genießen. Er wusste ganz genau, wo seine Träume endeten und seine Aufgaben anfingen. Er schüttelte den Kopf und lächelte: Beinahe wäre er nun auch ein Träumer geworden.
Dann kamen die Hunde zu ihm. Andrea drehte sich um und sah ihn.
»Hast du etwa auch Muskelkater in den Beinen, oder hast du den Weg hierher zur Bank nicht mehr geschafft, dass du dort auf der Türschwelle sitzen musst?«
»Ich wollte dich nicht stören, ich nehme an, du hast geträumt.«
»Ein bisschen, ja. Soll ich uns jetzt den Tee holen?«
»Das mache ich schon.«
Nach dem Tee bekamen die Hunde ihr Futter, und wenig später schlenderten sie mit der Herde über den Hügel und hinüber zum Pferch. Als sie oben auf dem Kamm der Bodenwelle waren, bat Ryan: »Bitte bleib hier und beobachte mein Haus. Ich habe nicht abgeschlossen, und ich möchte bei der Rückkehr nicht unerwarteten Besuch treffen. Mir reichen die Überraschungen für heute.«
Und mit diesen wenigen Worten waren alle Probleme wieder da, die die beiden für ein paar Stunden beiseite geschoben hatten. Andrea setzte sich in das blühende Heidekraut und sah auf der einen Seite das Haus im rötlichen Glanz der untergegangenen Sonne und auf der anderen den Mann, der mit wenigen Kommandos Herde und Hunde unter Kontrolle hatte und das Gatter verschloss, als die Schafe im Pferch waren. Ein leichtes Frösteln kroch Andrea über den Rücken, als sie an das Gewehr, den Helm, den Goldadler und den Schafstöter dachte.
Dann gab Ryan Ajax einen Befehl, und der Hund begann freudlos und mit eingeklemmter Rute, den Zaun zu umrunden, während er mit Bella zurückkam. Andrea sah ihn fragend an.
»Ich muss die Hunde heute trennen. Ajax bleibt bei den Schafen, Bella muss das Haus bewachen, während ich unterwegs bin.«
»Ajax sieht nicht gerade glücklich aus.«
»Nein, er bleibt nicht gern allein. Aber er ist gehorsam. Ich kann mich auf ihn verlassen.«
Bella, die, die Menschen begleiten durfte, rannte übermütig vor ihnen her, stöberte ein paar Wühlmäuse auf und legte sich schließlich vor die Türschwelle.
»Ich denke, es wird Zeit für den Rückweg, Ryan.« Andrea sah sich um. Abschiednehmen fiel ihr immer schwer. Sie wollte es nicht noch hinauszögern. »Würdest du mich zu meinem Wagen in Inverness bringen?«
»Selbstverständlich. Möchtest du noch etwas essen, wir hatten noch kein Abendbrot, und für ein Dinner in der Stadt reicht meine Zeit nicht.«
»Ich weiß, aber die Wirtin kann mir etwas richten. Es ist besser, du bist bald wieder hier.«
»Ich muss von Inverness aus telefonieren.«
»Ich habe ein Autotelefon, du kannst es gern benutzen.«
»Danke, ich nehme das Angebot an.«
Während Andrea ihre Tasche packte, holte Ryan seine Jacke, kontrollierte die Fenster und verschloss die Tür. Dann gab er Bella ein paar
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