Schottische Engel: Roman (German Edition)
verwöhnte und seine Frau hinter stinkende Reagenzgläser in ungelüftete Kellerräume verbannte?
»Hallo, Grantino, was machst du heute Abend?« Doktor Wallance kam ihm entgegen. War es schon so spät, dass der seinen Nachtdienst antrat?
»Ich habe eine Konzertkarte für die Londoner Sinfoniker erwischt.«
»Meine Güte, dann musst du dich aber beeilen.«
Grantino sah auf die große Uhr im Treppenhaus. »Du hast recht.« Er lief die breiten Marmorstufen hinunter. »Adieu, Wallance, eine ruhige Nacht für dich.«
Der Pförtner, die Glastür, endlich frische Luft – wie mild der Abend war. Grantino benutzte die Abkürzung durch den Park. Ein kleines Tor, die stille Villenstraße. Über den Pentland Hills versank die Sonne. Drüben, am Ende des Forth, krochen die Schatten der Nacht bereits über das Wasser. Grantino überquerte die Straße. Der kleine Bungalow, den er für die Dauer seiner Arbeit hier in Edinburgh gemietet hatte, lag am Ende der Häuserreihe. Grantino sprang mit einer Flanke über die niedrige Gartenmauer und ging über den Rasen. Der Junge aus der Klinikküche hatte das Tablett mit dem Abendessen auf den Küchentisch gestellt. Es sah appetitlich aus, aber Grantino hatte keine Zeit. Er drehte die Hähne im Bad auf, suchte den nachtblauen Abendanzug heraus, kaute einige Stückchen vom Toastbrot, kontrollierte Schuhe, Krawatte und Brieftasche und stand gleich darauf unter der heißen Dusche. ›In sechzig Minuten beginnt das Konzert‹, dachte er erschrocken, ›und wenn ich Pech habe, brauche ich allein eine halbe Stunde, um durch die Innenstadt zu fahren.‹ Gerade als er das Haus verlassen wollte, klingelte das Telefon. Wallance war am Apparat.
»Ich wollte dich nur warnen, fahr nicht die Mainstreet herunter. Eine große Umleitung würde dich bis Liberton führen. Das wurde gerade im Radio durchgegeben.«
»Danke für die Warnung.« Grantino legte auf, verschloss das Haus und eilte in die Garage. Wenig später jagte der rote Alfa Romeo die gewundenen Straßen hinunter der Innenstadt entgegen. Er hatte Glück, der Verkehr in den kleinen Nebenstraßen war schwach, die Leute saßen noch beim Abendessen. Dreißig Minuten später stellte er den Wagen in der Tiefgarage der Anna Hall ab. ›Geschafft‹, dachte er zufrieden, fuhr mit dem Lift nach oben, suchte seinen Platz und setzte sich, noch etwas außer Atem, aber zufrieden mit sich selbst, in seinen Sessel. Er bevorzugte – wenn es ihm gelang – einen Platz in der ersten Reihe einer Seitenloge. Es machte ihm Freude, den Musikern zuzusehen und den Dirigenten zu beobachten. Manche dirigierten mit weit ausholenden Bewegungen, zerzausten Haaren und feuchten Gesichtern. Andere dirigierten aus dem Handgelenk heraus und führten den Taktstock mit minimalen Gesten zum bravourösen Erfolg.
Aber heute war Grantino zu abgespannt, um auf solche Nuancen zu achten. Er gab sich mit geschlossenen Augen der Musik hin. Manchmal ließ er auch seine Gedanken spielen. Gewiegt von den Melodien, wanderten sie zu seinem einzigen Hobby, zu seinem Häuschen beim ›Rodono Hotel‹ am St. Mary's Loch, seinem kleinen, versteckten Ferienhaus, in dem er sich von der Hektik in der Klinik erholen konnte und von dem niemand in Edinburgh etwas wusste. Nur die Einheimischen rund um den See, denen er manchmal half, wenn ein Arzt gebraucht wurde, die kannten ihn.
Er dachte an die zurückliegenden Monate und an die Zeit davor; das Studium in Deutschland und das Stipendium in den USA. ›Meine Güte, hatte ich ein Heimweh damals! Danach die Arbeit in São Paulo, endlich die Stelle in Rio. Acht Jahre war ich dort. Eigentlich acht gute, befriedigende Jahre. Es gab natürlich auch Rückschläge bei der Arbeit, aber aus denen habe ich gelernt‹, sinnierte er, ›und es gab Erfolge, die meinen Namen bekannt gemacht haben. Die brachten mir Geld, ein Haus, einen Wagen und die Bekanntschaft interessanter Kollegen. Und sie brachten mir die Möglichkeit, noch einmal in Europa zu arbeiten.
Noch zwei, drei Jahre, dann geht's zurück an die Copacabana, ganz gleich, ob allein oder zu zweit. Meine Hoffnung, hier eine Frau fürs Leben zu finden, habe ich noch längst nicht aufgegeben.‹
Grantino wandte sich wieder ganz der Musik zu. Händel, Bach, Tschaikowsky, das waren die Komponisten der Melodien, die sich in sein Herz eingruben. ›Es sind die Gene meiner Vorfahren, die mich an diese Lebensart binden‹, dachte er. Sie waren einst aus Italien kommend in Brasilien eingewandert und
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