Schottische Engel: Roman (German Edition)
nicht gesehen, weil mich ein Freund versetzt hatte, wie oft habe ich vor Freude gesungen, weil ich einen neuen Typen kennengelernt habe. Und jetzt? Mein Gott, was erwartet mich jetzt in Barcaldine? Und was hatten Mutter und Vater überhaupt in Glasdrum zu tun? Und das mitten in der Nacht? Waren sie auf dem Viehmarkt von Creagan? Wollte Mutter Alpakas verkaufen oder neue abholen? Oder suchten sie nach einem neuen Scherer? Der alte von früher hat sie schon ein paar Mal versetzt, und dann gab es Schwierigkeiten mit dem Wollhändler. Ach Mama, dachte Lena, du und deine Alpakas. Und Papa lässt dich nie im Stich, er kann als Landarzt noch so viel zu tun haben, er lässt dich nie allein fahren.
Lena erinnerte sich, wie das mit den Alpakas angefangen hatte. Sie war gerade sechs Jahre alt und noch nicht in der Schule, als ihr Vater, der seit Jahren keinen Urlaub gehabt hatte, und ihre Mutter die lang ersehnte Urlaubsreise nach Chile antraten. Sie wollten mit Lena durch die Anden wandern, auf Eseln reiten und in Zelten schlafen. Es gab da Treckingtouren, die sie sich leisten konnten. Das Teuerste war die Hin- und die Rückreise. Aber ihr Vater kannte einen Kapitän, der mit seinem Schiff Guano, diese Mixtur aus Exkrementen, Vogelkadavern und Federn, von den Chincha-Inseln vor Peru holte und nach Europa brachte, wo dieses überaus geschätzte Düngemittel hoch im Kurs stand. Dieser Kapitän nahm die Familie mit. Lena erinnerte sich an den Gestank des Vogelmistes, der die Rückreise fast unerträglich gemacht hatte und den sie bis heute in der Nase hatte, wenn sie nur daran dachte.
Auf dieser Treckingtour durch die Berge haben uns Lamas begleitet um das Gepäck zu tragen, und ich durfte darauf reiten, weil ich noch so klein und leicht war, dachte sie. Ja, und dann hat Mama die Alpakas gesehen und sich in die weißen und braunen, schwarzen und gefleckten Tiere verliebt. Als wir die Rückreise mit dem stinkenden Frachter antraten, hatten wir zehn von diesen sanftmütigen Wollknäueln dabei, und Papa hat zwei Jahre lang den Kapitän und seine Familie umsonst behandelt, um die Rückreise abzuzahlen.
Lena lächelte in Erinnerung an den Anfang der Alpakazucht. Ihr Vater hatte im Laufe der Zeit das ganze Land in Weiden umgewandelt, und ihre Mutter hatte inzwischen eine richtig gute, anerkannte Alpakazucht auf Paso Fernando aufgebaut. Lena lächelte, sogar die kleine Farm hatte er nach dem Pass benant, auf dem Mutter sich in die ersten Alpakas verliebt hat. Aber was um Himmels willen war jetzt passiert? Was hatten die Eltern gemacht, dass sie plötzlich in einer Klink lagen und dass die Polizei bat, Lena möge sofort kommen? Sie waren doch beide so gute Autofahrer, sie hatten doch noch nie einen Unfall.
Am späten Nachmittag erreichte Lena Barcaldine. Sie missachtete unterwegs alle Geschwindigkeitsbegrenzungen und holte alles aus dem alten Kleinwagen heraus.
Aber sie kam zu spät. Ihre Eltern waren bereits am Unfallort bei Glasdrum verstorben, wo ein schwerer Holztransporter ihren Wagen von der Straße abgedrängt und in eine Schlucht geschoben hatte.
„Miss Mackingtosh, es tut mir so leid“, empfing sie Sergeant Marloff, der im Eingangsbereich der Klinik auf sie gewartet hatte.
Lena nickte nur. Sie hatte keine Worte, sie hatte auch keine Tränen, sie war nur am Ende ihrer Kräfte. Müde ließ sie sich auf eine Bank fallen und starrte auf ihre Knie, die so stark zitterten, dass sie sie mit beiden Händen festhalten musste. Der Sergeant holte einen Becher Kaffee für sie aus einem Automaten und setzte sich neben sie. „Bitte, trinken Sie den, er ist stark und heiß, und vielleicht hilft er Ihnen ein bisschen.“
„Danke.“ Es dauerte lange, bis Lena sich so weit beruhigt hatte, dass sie fragen konnte: „Kann ich meine Eltern sehen? Wo sind sie?“
„Sie liegen hier in einem ‚Raum der Stille’, wo die Angehörigen Abschied nehmen können. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie.“
„Ja, bitte.“ Lena stand langsam auf, der Sergeant stützte sie und führte sie einen langen Korridor entlang. „Sie dürfen nicht erschrecken“, erklärte er vorsichtig, „die Ärzte haben versucht, die Wunden zu schließen und die Verletzungen abzudecken, aber es war ein sehr schwerer Unfall, und wenn Sie Ihre Eltern so im Gedächtnis behalten wollen, wie Sie sie gekannt haben, sollten Sie auf den Anblick verzichten.“
„Ich bin selbst Ärztin, und ich kann mit solchen Anblicken umgehen“, schluchzte sie, „ich muss mich doch
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