Schottische Engel: Roman (German Edition)
Ich habe meine Arbeit gemacht, bin den beiden aus dem Weg gegangen, wann immer das möglich war, und habe nicht einmal die Avancen beachtet, die mir dieser Södergren auch jetzt noch macht.‹ Sie sah die beiden direkt vor sich, wie sie sich stritten. Er, wie immer im sportlichen Dress mit weißer Hose und weißem Polohemd, sie im indischen Morgenmantel mit grellrot geschminkten Lippen, furchterregend schwarz umrandeten Augen und langen dunklen Haaren, die offen und in Strähnen fast bis zur Taille reichten. ›Sie erinnert mich an eine dürre, keifende, alte Hexe‹, dachte Mary erschrocken. ›Wie kann ein gebildeter Mann wie der Södergren es nur mit so einer Schwester aushalten? Kein Wunder, dass sie nie einen Mann gefunden hat und nun den Bruder als Eigentum betrachtet. Aber mir soll sie nicht zu nahe kommen, ich kann mich wehren. Ich habe versprochen, hier meine Arbeit zu machen, und das werde ich tun, bis ich den Engel gefunden habe.‹
Und das ging dann doch schneller, als sie erwartet hatte.
Nachmittags kam Södergren zu ihr und bat sie, ihm beim Tee Gesellschaft zu leisten. »Ich habe eine Überraschung für Sie, Mary, eine wundervolle Überraschung.«
»Hängt diese Überraschung mit meiner Arbeit zusammen?«, fragte sie vorsichtig.
»Selbstverständlich. Bitte kommen Sie mit.«
Er führte sie in seine Bibliothek, wo ein Tisch für zwei Personen und mit kleinen Leckereien gedeckt war. Betont lange schaute Mary auf ihre Armbanduhr und erklärte dann: »Sie wissen, ich werde um fünf Uhr abgeholt?«
»Ja, ja, ich weiß. Weshalb werden Sie eigentlich jeden Tag abgeholt?«
»Erstens, weil Sie mich einmal festgehalten haben, als ich Ihr Grundstück verlassen wollte, und zweitens, weil ich oft eines Ihrer Kunstobjekte im Wagen habe und damit sicher im Museum ankommen muss«, erklärte sie ganz offen.
»Dass meine Sammlerstücke gut behütet werden, ist für mich sehr beruhigend, aber dass Sie immer noch an unser kleines Missverständnis denken, macht mich traurig. Ich hatte gehofft, dass sich die Wogen zwischen uns längst geglättet hätten.«
»Mister Södergren, Sie sind ein sympathischer, toleranter und bewundernswerter Mann, und ich schätze Ihr Vertrauen in meine Arbeit sehr ...«
»Aber nicht doch, Mary, nicht nur in Ihre Arbeit ...«
»Bitte, Mister Södergren, ich heiße Ashton, so hatten wir es ausgemacht.«
»Also gut, Miss Ashton – und dabei ist Mary so ein hinreißender Name, aber ich entspreche Ihren Wünschen –, ich will auch ganz offen sein, ich verehre Sie und nicht nur wegen Ihrer Arbeit, ich möchte so gern, dass wir uns etwas näher kennenlernen. Sie sagten mir damals, als wir uns zum ersten Mal trafen, dass sie sehr viel allein seien und kaum Freunde hätten, deren Adressen in ihrem Adressbuch zu finden seien. Nun möchte ich doch nur ein Freund sein, der Ihnen in aller Bescheidenheit etwas nahestehen darf.«
»Mister Södergren, ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein: Ich habe Freunde, sehr gute und zuverlässige Freunde, die mir sehr viel bedeuten, ihre Adressen habe ich in meinem Kopf, die brauche ich nicht zu notieren.« Sie zögerte. Sollte sie deutlicher werden? ›Nein‹, dachte sie, ›er will mir gleich etwas Besonderes zeigen, und ich nehme an, es ist der Engel, ich darf ihn jetzt nicht brüskieren.‹ So schüttelte sie nur den Kopf und sagte: »Ich fühle mich sehr geehrt, Mister Södergren, ich hatte noch nie einen so bedeutenden Freund, das dürfen Sie mir glauben. Aber ich muss mich erst daran gewöhnen, also bitte, lassen Sie mir etwas Zeit.«
›Himmel‹, dachte sie erschrocken und nahm einen Schluck Tee, ›ist das meine neueste Methode, alle Verehrer um mehr Zeit zu bitten? David ließ nach meiner Bitte neulich nichts mehr von sich hören, geht das jetzt mit diesem Mann genauso weiter?‹
Sie lächelte ihn an. »Danke für Ihre Freundschaft, Mister Södergren, und danke für Ihr Vertrauen in meine Arbeit. Sie wollten mir etwas ganz Besonderes zeigen?«
»Ja, Mary – bitte erlauben Sie mir wenigstens, Sie Mary zu nennen, das muss bei einer Freundschaft doch möglich sein.«
»Na, gut, das kann ich erlauben.«
Er stand auf. »Kommen Sie bitte mit.« Dann ging er zu einer in das Bücherregal integrierten Geheimtür und öffnete sie. Erwartungsvoll ging sie ihm nach. Er öffnete die Tür einer kleinen Kammer und schaltete eine dezente Beleuchtung ein. Dann ging er zur Mitte der Kammer, in der eine verdeckte Figur auf einem Podest stand, und entfernte ein
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