Schottische Engel: Roman (German Edition)
graues Seidentuch. »Bitte, Mary, darf ich Sie mit meinem intimsten Sammlerstück bekannt machen? Der dritte Engel des italienischen Bildhauers Titurenius.«
Mary starrte fassungslos auf die hölzerne Skulptur, die, im vom Alter geprägten silbergrauen Glanz, vor ihr stand. Sie war atemberaubend schön mit ihren nur ganz wenig ausgebreiteten Flügeln, dem lang herunterfließenden Gewand, das figürliche Einzelheiten verbarg und nur die Hände freiließ, die auf anmutige Art vor der Brust zusammengelegt waren. Sie wusste, dass Titurenius auf die sonst üblichen weit schwingenden Armbewegungen der Engel verzichten musste, weil er alle Figuren aus dem Schiffsmasten geformt hatte, und dieser Mast ließ keine ausgreifenden Bewegungen zu. So hatte er auch bei dem Engel Gabriel darauf verzichtet, mit dem rechten Arm eine große segnende Geste zu zeigen und in der linken Hand einen Kreuzstab zu erheben. Der Umfang des Masts ließ nur betende Hände zu. »Wie wunderschön«, flüsterte sie und ging einmal um den Sockel herum, um den Engel von allen Seiten zu betrachten und um ihre Fassung zurückzugewinnen. Dieser Engel war himmlisch schön – aber er war kein Titurenius-Engel. Sie sah es sofort. Das Gesicht war zu lieblich, das Gewand zu fließend, die Flügel zu breit, das Holz zu silbrig. Er war wirklich wunderschön, dieser Engel, aber er war eine Fälschung. Sie hatte die echten Engel im Museum vor Augen, die vom Kopf bis zu den fast verborgenen Füßen Härte ausstrahlten, die nicht anziehend und ausgewogen, sondern ernst, um nicht zu sagen brutal wirkten, mit ihren beinahe schroffen Gesichtszügen. Dieser Engel war weich und lieblich, die echten waren hart.
Södergren sah sie erwartungsvoll und vor Freude strahlend an. »Na, ist das eine Überraschung? Mary, ich bin so glücklich, Ihnen meinen Engel zeigen zu dürfen. Stundenlang sitze ich manchmal hier in meinem Sessel und genieße seinen Anblick. Er fasziniert mich, er richtet mich auf, wenn ich betrübt und von den Menschen enttäuscht bin. Er ist die Wohltat meiner Seele und das Wertvollste, was ich je besessen habe.« Er setzte sich in seinen Sessel und breitete die Arme aus. »Kommen Sie, Mary, genießen sie mit mir zusammen mein Glück.«
Mary sah ihn bestürzt an. Sollte sie sich etwa auf seinen Schoß setzen, und überhaupt, wie sollte sie ihm klarmachen, dass sein Engel eine Fälschung war? Durfte sie sich das zumuten? Sie schüttelte den Kopf und erklärte: »Ich muss den Engel in Augenhöhe ansehen, ich kann mich jetzt nicht ruhig hinsetzen.« Und langsam ging sie weiter um die Skulptur herum. ›Nein‹, überlegte sie, ›ich kann ihm das nicht sagen, das müssen andere, kompetentere Menschen tun. Das soll mein Chef persönlich machen. Also muss ich den Engel ins Museum bringen, unbedingt. Aber ob mir das bei all der Geheimnistuerei in dieser versteckten Kammer gelingt?‹
»Darf ich ihn vorsichtig berühren?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
»Sie dürfen das, Mary, aber nur Sie.«
Behutsam strich sie über das Gewand und spürte, wie ihr das leicht splitterige Holz Widerstand leistete. ›Die Engel im Museum sind glatt wie Seide‹, dachte sie, ›und diese silbergraue Farbe stammt von Bleichmitteln und intensiver Sonnenbestrahlung und nicht von Meerwasser und Alter.‹ Ganz verborgen und nur dem Kennerblick sichtbar, stellte sie fest, dass die Flügel später angefertigt und der Skulptur beigefügt worden waren. Das war also kein Engel, der aus einem Stück Holz gefertigt worden war, sondern der aus drei Stücken bestand. Die Einheitlichkeit der Titurenius-Engel bestimmte ihre Einzigartigkeit, mit der hatte dieser Engel nichts zu tun.
›Was sage ich bloß, damit er meine Zweifel nicht bemerkt? Trotzdem: Ich muss den Engel gründlich untersuchen, ich kann mich nicht auf meine Gefühle und auf Äußerlichkeiten verlassen.‹
Schließlich nickte sie dem Mann zu, der noch immer in seinem Sessel saß und sie nicht aus den Augen ließ. »Mister Södergren, ich habe selten eine schönere Skulptur gesehen. Aber ich muss den Engel natürlich untersuchen, wenn Sie ein Zertifikat von mir haben wollen. Und ich muss ihn zum Röntgen und Fotografieren mit ins Museum nehmen, diese Apparate kann ich nicht hierher transportieren. Außerdem werden sie bei uns täglich gebraucht.«
Södergren stand auf und breitete das Seidentuch wieder über den Engel. »Das habe ich befürchtet. Aber Sie haben in den vergangenen Tagen mein Vertrauen erworben und meine
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