Schottlands Wächter (German Edition)
und steckte es mit der Zeitung zusammen in ihren Ranzen. Sie seufzte erneut und sah aus dem Fenster.
Ein Hand berührte ihre Schulter sanft, und eine seidige Stimme flüsterte: „Sag deinem Vater, seine Zeit wird knapp.”
Als Bryanna herumfuhr, stieg die Frau bereits die Treppe hinunter. Sie war rundlich gebaut und hatte ein sehr rundes Gesicht mit einer Stupsnase. Irgendwie erinnerte sie Bryanna an einen Seehund. Kurz bevor sie außer Sicht geriet, winkte sie. Ihre Finger waren durch Schwimmhäute miteinander verbunden. Bryanna schüttelte den Kopf. Das kann nicht sein. Ich muss es mir eingebildet haben . Sie zog den Schulranzen und die Tasche mit den schmutzigen Sachen dichter an sich heran. Ich wünschte Vater hätte mich abgeholt .
Der Bus erwachte zum Leben, verließ St. Andrew‘s Station und rollte mit einer schneckenartigen Geschwindigkeit die Straße entlang. Bryanna sah aus dem Fenster und ließ ihren Blick über das übliche Verkehrschaos in Edinburghs Innenstadt schweifen. Die Straßen um den Busbahnhof waren trotz des Nieselregens so überfüllt wie immer. Einem Dudelsackpfeifer auf dem Bürgersteig neben einem Souvenirladen gelang es ein paar Mal, beim Versuch Touristen anzulocken, den Verkehrslärm zu übertönen. Die wehmütige, schnarrende Melodie drang durch die offenen Klappen in den Seitenfenstern des Busses.
An der Kreuzung zum Waverley Bahnhof reihte sich eine schwarze Kutsche vor dem Bus ein. Es war keiner der offenen Einspänner für Touristen, sondern ein geschlossener Vierspänner. Die Tür zierte ein Wappen, aber Bryanna hatte nicht genug Zeit, es genauer zu betrachten.
Wie schön, dass es noch immer Leute gibt, die mit Pferd und Wagen fahren . Sie stellte sich vor, wie es gewesen sein musste, als die Stadt noch mit Reitern, Karren und Kutschen verstopft war, nicht mit Autos. Sie ignorierte die Häuser auf der rechten Straßenseite mit ihren vielen Geschäften und den zahlreichen Fußgängern, und ließ ihren Blick träumerisch über die linke Straßenseite wandern. Die gelblichen Steinfinger von Edinburgh Castle ragten aus den dunklen, steilen Basaltfelsen am Rande von Princess Street Gardens in den Himmel. Im Park, der sich vom Waverley Bahnhof mehrere hundert Meter nach Westen erstreckte, schoben die ersten Blumen ihre Köpfe durch die matschige Erde. So grau der Garten auch wirkte, der Frühling war unterwegs. Hoffentlich fährt Papa mit mir mal wieder in die Highlands, wenn das Wetter besser wird .
Als der Bus die Türen für weitere Fahrgäste öffnete, starrte sie auf den schmalen Garten zu Füßen des Schlosses und malte sich aus, was sie mit ihrem Vater in den Ferien alles tun würde. Das Gras der Parkanlage wirkte müde und blass. Nur einige Schneeglöckchen kämpften gegen die graue Nässe, die das Frühjahr in Edinburgh dominierte. Nicht weit von der Haltestelle saß ein gigantischer Vogel im Geäst eines kahlen Baumes und betrachtete die Tauben auf dem Weg darunter. Der feine Regen ließ sein schwarzes Gefieder glänzen wie Obsidian. Er war mindestens doppelt so groß wie ein Mensch. Sein Hakenschnabel klappte hungrig auf und zu, während die Krallen an seinen Schwimmfüßen tiefe Löcher in dem Ast hinterließen, auf dem er saß.
Ein Boobrie! Bryanna starrte den Sagenvogel mit offenem Mund an. Das Zischen der Türen ließ sie zusammenzucken. Sie sah zu den Menschen hinunter, die sich auf dem schmalen Bürgersteig an den wartenden Fahrgästen vorbei schoben. Keiner schien den Riesenvogel zu bemerken.
Bin ich denn die Einzige, die ihn sehen kann? Der Boobrie breitete seine gewaltigen Schwingen aus und flog höher und höher, bis er im Blau des Himmels kaum noch zu sehen war. Bryanna sah ihm zu, wie er über dem Schloss kreiste, das mit seinen massiven Wänden und Türmchen den Park und das Stadtzentrum überragte. Sie schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich werde verrückt. Ein Boobrie! Da hat mir meine Fantasie wieder einen schönen Streich gespielt. Bryanna wendete sich vom Schloss ab. Und es war so unglaublich realistisch. Ich muss noch einmal mit Vater reden. Vielleicht sollte ich doch einen Psychiater aufsuchen.
Um sich abzulenken, betrachtete Bryanna die Läden und Häuser auf der anderen Straßenseite. Sie waren drei oder vier Stockwerke hoch und bis auf die Mündungen der Seitenstraßen lückenlos nebeneinander gebaut. Der Bus quälte sich von Ampel zu Ampel, so dass Bryanna genug Zeit hatte in die Fenster der Gebäude zu gucken. Da es sich überwiegend um
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