Schottlands Wächter (German Edition)
und betrachtete die Anzeigetafel. Ihr Arm zeigte auf einen der orangefarbenen Einträge und sie sagte etwas zu einem der Männer, die sie begleiteten. Die drei Männer setzten sich in Bewegung und gingen auf die Bahnsteige zu. Einer der Männer wurde von den anderen beiden gestützt. Es war ihr Vater, der steifbeinig und mit gesenktem Blick ging. Bryanna lief ihnen nach. Die Männer und ihr Vater verschwanden hinter einer großen Werbetafel. Als Bryanna sie erreichte, waren die drei nicht mehr zu sehen. Bryannas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Was sollte sie jetzt tun? Während ihr Gehirn noch versuchte, die neue Situation zu erfassen, rannte ihr Körper schon auf die Telefonzellen am Rand des Wartebereichs zu. Sie hob den Hörer ab und wählte den internationalen Notruf 112: keine Antwort. Sie wählte erneut. Auch diesmal blieb die Leitung tot. Frustriert bemerkte sie ein Außer-Betrieb-Schild auf dem Boden. Sie bückte sich, um es aufzuheben.
„Wir müssen schnell sein. Wir haben nicht mehr viel Zeit.” Bryanna hörte Morags Stimme so deutlich, als stünde sie direkt neben ihr. Ich habe sie doch nicht verloren . Erleichtert sah sie sich um.
„Ich passe schon auf, dass mir niemand folgt”, sagte die Stimme. Bryanna hatte keine Probleme, dem Gespräch zu folgen, obwohl Morag Gälisch sprach. Sie untersuchte die Wand, die die Kabinen voneinander trennte und fand ein kleines Loch. Als sie sich vorbeugte, um es zu untersuchen, wurde Morags Stimme deutlicher.
„Ich habe jemanden im Sinn, aber ich muss einen Umweg nehmen, um mein Ziel zu erreichen.” Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Sieh zu, dass die Ausrüstung so schnell wie möglich zu Fosters kommt. Sie wird bald gebraucht.”
Bryanna hörte das Klicken, als Morag den Hörer auflegte. Sie verließ ihre Telefonzelle und sah gerade noch, wie Morag in Richtung der Bahnsteige ging. Bryanna lief ihr nach und packte ihre Schulter.
„Wo ist mein Dad?”, schrie sie.
Morag drehte sich um und lächelte sie an. Als Bryanna den Mund öffnete, um eine Erklärung zu verlangen, drängelten sich die Pfadfinder an ihnen vorbei. Mehrere Jungen schubsten Bryanna, bis ihre Hand wurde Morags Schulter rutschte. Wütend funkelte sie die Knirpse an. Als sie wieder aufblickte und erneut zupacken wollte, war Morag verschwunden. Einer der Pfadfinder packte ihr Handgelenk und zog sie mit überraschender Kraft zu Boden. Sein Gesicht veränderte sich und Bryanna starrte in das hässliche Gesicht eines Goblins. Lange Klauen gruben sich in ihren Oberarm.
Bryanna sah die anderen Pfadfinder an, wollte sie um Hilfe bitten, doch sie war von Goblins eingekesselt. Sie erstarrte. Es war lange her, dass sie zuletzt ein Gesicht wie das der Goblins gesehen hatte. Allerdings waren die Augen ihres besten Freundes nie mit solch einer Kälte auf sie gerichtet gewesen.
Sie war damals acht und süchtig nach Büchern. Am liebsten las sie Märchen und Sagen. Sie kannte sich mit Goblins, Hexen, Elfen und Helden aus. Rotkäppchen, Cinderella, Thomas der Rhymer, Rob Roy McGregor und Finn von den Fians waren ihr vertrauter als ihre Klassenkameraden. Es war eine Leidenschaft, die sie mit ihrem besten Freund Hob teilte, dem Hobgoblin, der seit ewigen Zeiten bei ihnen im Haus lebte.
Eines Tages versteckten sich die beiden hinter dem Sofa, um einige deutsche Märchen zu lesen.
„Kannst du die letzte Geschichte noch mal lesen?”, fragte Hob. Bryanna blätterte einige Seiten zurück. „Rotkäppchen war ein liebes Mädchen. Alle Menschen im Dorf mochten sie”, las sie, als sich die Tür öffnete und ihr Vater eintrat. Bryanna klappte das Buch zu und legte den Finger auf die Lippen, damit Hob leise war. Sie wollte nicht, dass ihr Vater ihren Lieblingsplatz herausfand. Zu spät bemerkte sie, dass er von einem seiner Freunde begleitet wurde. Der Mann hatte sie ein paar Mal besucht und ihr viele Fragen gestellt. Er hatte auch sie beim Spielen beobachtet und Bryanna war froh gewesen, dass er Hob nicht sehen konnte.
Sie hörte die Federn der Stühle quietschen, als sich die Männer setzten. Für eine Weile waren ihre Atemzüge und das Klappern der Löffel im Tee die einzigen Geräusche im Raum. Der Duft von Earl Gray füllte die Luft. Bryannas Vater eröffnete das Gespräch.
„Nun, Doc, was denkst du?”
„All unsere Tests zeigen, dass sie sehr begabt ist. Ihre Matheergebnisse sind außerordentlich gut für eine Achtjährige. Ihre Fähigkeit, Sprachen zu lernen, ist auch überdurchschnittlich. Du
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