Schottlands Wächter (German Edition)
Wohnzimmer.
„Tha mi ag iarraid cuppa tea”, sagte Morag. Bryanna beeilte sich, den Tee zu holen, um den Morag gebeten hatte. Erst in der Küche merkte sie, dass Morag Gälisch gesprochen hatte. Sie lächelte. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie die alte Sprache für etwas anderes brauchte, als für die gelegentlichen Fernsehfilme. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand Morag am Fenster, den Rücken der Tür zugewandt. Ihre langen, schwarzen Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt, der einen ungewöhnlich langen Hals betonte. Ihre Haltung erinnerte Bryanna an einen viele Jahre zurückliegenden Nachmittag an einem schottischen See.
Bryanna schüttelte die Erinnerung ab und stellte das Tablett auf den kleinen Tisch neben dem Lieblingsstuhl ihres Vaters und goss Morag eine Tasse Tee ein. Hätte sie Morags Gesicht sehen können, hätte sie sicher etwas verschüttet. Morags Augen spiegelten nicht den gepflegten viktorianischen Garten vor dem Fenster wieder, sondern ein wildes Heidemoor des schottischen Hochlands und einen der schmalen Seen, die Lochs genannt wurden.
„Ich … ähm … ich lasse Dad —ich meine meinen Vater— wissen, dass Sie hier sind, Misses MacDonald.”
„Nenn mich ruhig Morag, Liebes. Alle tun das.” Morag trat vom Fenster zurück und setzte sich auf das Sofa.
Bryanna nickte und ging. Ihr Herz klopfte. Sie fühlte sich wie am Tag vor Weihnachten, wenn die Vorfreude zu groß wurde. Hoffentlich kann Dad mir erklären, warum ich Morag mag, obwohl ich mich nicht an sie erinnere , dachte sie und stieg die Treppe hoch.
Wie erwartet fand sie ihren Vater in seinem Arbeitszimmer. Die hölzernen Bücherregale quollen über mit Büchern. Unzählige Zeitschriften stapelten sich auf dem Beistelltisch, den Stühlen und sogar auf dem Boden. Nur der riesige Eichenschreibtisch und der Stuhl waren frei von Papier.
„Eine Frau, die sich Morag MacDonald nennt, wartet im Wohnzimmer auf dich”, sagte Bryanna. „Kennst du sie? Sie kommt mir so bekannt vor, als hätte ich sie früher schon einmal gesehen.”
„Morag? Hier?” Ihr Vater raste die Treppe hinunter, ohne Bryannas Frage zu beantworten. Bryanna folgte ihm langsamer. Als sie unten ankam, saß ihr Vater schon dicht neben Morag auf dem Sofa. Sie unterhielten sich angeregt. Bryannas Vater schüttelte den Kopf.
„Meine Güte, ist das wirklich schon so lange her?”
„Etwas mehr als zwölf Jahre. Als ich das letzte Mal hier war, fing Bryanna grade an zu Laufen.”
Ich wusste, dass ich sie kenne . Bryanna lächelte. Vielleicht ist sie eine der Nachbarinnen, die früher auf mich aufgepasst haben. Sie setzte sich auf einen Sessel und goss sich einen Tee ein. Der süßlich frische Duft des Tees mischte sich mit dem von blühender Heide. Tief atmend lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und erinnerte sich.
Sie saß auf einem weichen Schoß, den Teddy auf dem Arm und lauschte einer Stimme, so warm wie ein Sommerwind. Der Duft von Heidekraut und schwarzem Tee erfüllte die Luft und Bryanna spürte die Müdigkeit eines aktiven Tages.
„Und was machst du so, wenn sich dein Vater in seinen Büchern vergräbt? Besuchst du deine Freundinnen?” Morags Stimme vertrieb die Erinnerung. Bryanna öffnete widerwillig die Augen.
„Meistens lese ich … oder gehe spazieren … und manchmal unternehmen Lucy und Jane etwas mit mir”, sagte sie zögernd. Morag fragte weiter, doch erst als sich das Gespräch Bryannas Hobby zuwendete, redete sie freier. Morag schien sich über ihren Eifer zu freuen.
„Du liest wohl viel?”, fragte sie.
Bryanna nickte. „Hauptsächlich versuche ich die Wahrheit hinter den Märchen und Legenden herauszufinden. Die meisten Leute glauben, Märchen wären Kinderkram. Aber haben Sie mal die Originale der Brüder Grimm gelesen? Zum Teil sind das sogar für Erwachsene die reinsten Gruselgeschichten.”
„Das Leben ist nun mal nicht ungefährlich. Da ist es nur gut, wenn klar ist, welcher Riese kleine Kinder frisst”, sagte Morag.
„Riesen, Hexen, Ungeheuer - alle diese Geschichten haben einen wahren Kern. Manche nutzen sogar historische Personen, wie zum Beispiel Dracula. Kennen Sie Dracula? In Wirklichkeit war Vlad Drăculea kein Vampir, sondern Woiwode der Walachei im 15-ten Jahrhundert, also ein Herrscher einer Gegend in Rumänien.” Bryanna rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn und beugte sich vor. Ihren Tee hatte sie vergessen. Begeistert erzählte sie Morag von dem historischen Vorbild des Blutsaugers.
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