Schrei Aus Der Ferne

Fleisch raus. Da habe ich gesagt: Nein, nie wieder. Ich mach das nicht mehr. Am nächsten Tag habe ich ein Feuer angemacht, die Uniform und alles andere verbrannt und gesagt: So, damit ist das vorbei.
    Ich erklärte ihm, er könne tun und lassen, was er wolle   – die Fotos, die Zeitschriften und was sonst noch   –, solange er mich da nicht hineinzog. Deshalb habe ich auch darauf bestanden, dass dieses Zimmer immer abgeschlossen wurde. Dann musste ich nämlich nicht darüber nachdenken. Ich brauchte es nicht zu wissen.
    Aber einmal sprachen wir ganz offen miteinander; es war einer dieser seltenen Momente, und ich hatte das Gefühl, ihn etwas fragen zu können. Man liest ja immer über diese Männer, die nach Thailand oder anderswohin fahren, Sextouristen, so heißen die doch? Ich habe ihn also gefragt, ob er schon mal in Versuchung gewesen wäre, an einen solchen Ort zu fahren, und er sah mich an, als wäre es das Schockierendste, das er je gehört hätte. Fantasien, sagte er, das sind doch nur Fantasien. Sonst nichts. Ich würde mir eher die Hände abhacken, als ein Kind anzufassen. Auf diese Art.«
    Sie machte eine Pause, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Wenn Sie glauben, Lyle hat etwas damit zu tun, was Beatrice passiert ist, irren Sie sich.«
     
    Am späten Vormittag hatte Hendersons Anwalt genug. »Mein Mandant hat Ihnen alle Zeit gegeben, die Sie vernünftigerweise erwarten können, und mehr. Er hat alle Fragen vollständig und korrekt beantwortet. Es ist völlig klar, dass es nichts gibt, was zu einer Anklage führen könnte. Was das Verschwinden dieses armen Mädchens betrifft, so ist er offensichtlich in keiner Weise daran beteiligt.«
    »Bleibt allerdings die Frage des Materials auf seinem Computer«, sagte Will.
    »Ziemlich zahm für heutige Verhältnisse, finden Sie nicht auch? Die Grenzen dessen, was akzeptabel ist und was nicht, verschieben sich, Detective Inspector. Ich frage mich manchmal, was all diese freigeistigen Liberalen aus den Sechzigern, die für freie Rede, ›Lady Chatterley‹ und all das demonstriert haben, über die freizügige Gesellschaft von heute denken. Wohin das alles geführt hat. Jedes zweite oder dritte Wort, das die Leute benutzen   – auch Kinder   –, ist ein Schimpfwort. Und was man im Radio hört und in der Zeitung liest, da gibt es keine Schranken mehr. Die Gesellschaft, in der wir leben, lässt mich schaudern. Aber wir dienen ihr, Sie und ich, auf verschiedene Weise. Selbst wenn wir es wollten, gibt es nichts, was wir tun könnten, um der Flut Einhalt zu gebieten. Ich bezweifle stark, dass die Staatsanwaltschaft der Meinung sein wird, es sei im öffentlichen Interesse, meinen Mandanten für den Besitz von Material zu belangen, das jeder, der einen freien Abend und ein paar Pfund zur Verfügung hat, im Kino um die Ecke ansehen kann. Aber die Entscheidung liegt nicht bei mir.«
    Er streckte die Hand aus.
    »Inspector, ich hoffe, Sie finden das Mädchen   … lebend.«

54
     
    Helen war überrascht, wie schnell der erste Teil der Reise verging. Sie las ein wenig, holte sich einen mittelmäßigen Kaffee aus dem Speisewagen und später einen etwas besseren Tee, sah aus dem Fenster, las noch ein bisschen. Der Zug hielt in Bristol Temple Meads, ehe sie sich’s versah. Der nächste Fahrtabschnitt nach Exeter und Plymouth führte durch eine immer hübschere Landschaft: hohe Hügelketten mit kleinen Waldgebieten dazwischen, Blätter, die sich in allen Schattierungen von Gelb und Braun färbten.
    Weil das Zugpersonal abgelöst wurde, gab es in Plymouth einen Halt, der den Passagieren die Gelegenheit bot, sich auf dem Bahnsteig die Beine zu vertreten oder wie in Helens Fall eine Zigarette zu rauchen. Sie stieg gerade wieder in den Zug ein, als sie ein paar Wagen weiter hinten einen Mann erblickte, der Declan Morrison so ähnlich sah, dass sie Gänsehaut an den Armen bekam. Sollte Declan sie wirklich bis nach Cornwall verfolgen? Und warum? War es ein unüberlegter und alberner Versuch, sie zu einem Sinneswandel zu bewegen? In den Wochen, nachdem sie Schluss gemacht hatte, hatte er versucht, sie bei der Arbeit abzufangen, hatte E-Mails geschickt und angerufen; einmal war er um zwei Uhr morgens ziemlich betrunken bei ihr zu Hause aufgetaucht, hatte seine Liebe beteuert und den letzten Strauß müder Blumen von der Tankstelle in ihrer Straße geschwenkt. Er hatte sie in Versuchung geführt, aber sie hatte standgehalten.
    »In Ordnung, in Ordnung«, hatte er gesagt,