Schrei Aus Der Ferne
machen Sie alles von hier aus? Mit den verschiedenen Gruppen kommunizieren? Auf dem Computer?«
»Ja, natürlich.«
»Und Sie haben sie als vermisst gemeldet?«
»Also nein, nicht offiziell. Offiziell kann ich das gar nicht, das müsste Ruth machen, und ich glaube nicht … Als ich es früher einmal erwähnt habe und ihr Interesse wecken wollte … Aber jetzt denkt sie vielleicht anders darüber. Oder Sie, einer von Ihnen könnte ihr vorschlagen …«
Er brach ab und verstummte.
Ellie Chapin nahm den Kessel vom Herd, bevor alles Wasser verdampfte.
»Aber«, sagte Will, »bevor Sie Beatrice als vermisst melden konnten, wenn auch nur inoffiziell, brauchten Sie ja logischerweise ein Foto.«
»Ja, sicher …«
»Und das ist kein Problem, denn Sie haben viele Fotos. Dutzende, irgendwo ordentlich aufbewahrt. Auf einem Memory Stick? Es sind gute Fotos, nicht nur Schnappschüsse. Ich habe sie gesehen, jedenfalls eine Auswahl. Die, die Sie an ihre Mutter geschickt haben. Das waren Sie, richtig? ›Ist sie nicht süß?‹ Das haben Sie geschrieben. Ihre Botschaft. Anonym. Geheim. Warum sollte sie es nicht wissen? Ihre Mutter? Warum haben Sie sich solche Mühe gegeben, Ihre Identität zu verbergen? War es die Scheu davor, welchen Eindruck das machen würde? Was die Leute denken würden? Dass sie es für merkwürdig halten würden. Falsch? Anomal? Dass ein erwachsener Mann herumschleicht und heimlich Bilder von der zehnjährigen Tochter seiner Exfrau macht?«
Pierce war bis zur Wand zurückgewichen, und jetzt stand er geduckt da, die Arme gegen die Ohren gedrückt, die Augen fest geschlossen.
»Wo ist sie?«, wollte Will wissen. »Sagen Sie mir, wo sie ist. Sie wissen es doch. Sie wissen es.«
»Nein, nein. Ich weiß es nicht.«
Als er noch weiter zurückweichen wollte, fiel er seitlich zu Boden, stieß mit dem Kopf an die Kante einer offenen Schranktür. Wie ein unordentlich zusammengeballtes Knäuel lag er da.
»Soll ich ihm aufhelfen?«, fragte Ellie Chapin.
»Lassen Sie ihn liegen.«
Momente später stieß Jim Straley die Küchentür auf und hielt mit einer Hand einen Beweisbeutel aus Plastik in die Höhe: Darin lag ein mit Schmutz verkrusteter, am Ärmel und Halsausschnitt zerrissener, schwarz und golden gestreifter Pulli.
59
Als Ruth den Pulli sah, brach sie in Tränen aus. Und als Anita Chandra dann erklärte, wo er gefunden worden war, ließ sie sich immer noch weinend in einen Sessel fallen, hin und her gerissen zwischen Nicht-Verstehen und Verzweiflung.
Andrew ging zu ihr und wollte den Arm um sie legen, aber sie schob ihn weg.
»Es bedeutet, dass sie tot ist, nicht wahr?«, sagte Ruth schluchzend, sodass die Worte fast unverständlich waren. »Das bedeutet es doch.«
»Nein, nein«, sagte Anita Chandra. »Das braucht es keineswegs zu bedeuten.«
»Lügen Sie nicht. Lügen Sie mich nicht an.«
»Es heißt, dass wir eine große Chance haben, sie zu finden. Jetzt mehr denn je.«
»Aber Simon …? Dort haben Sie …? Ich verstehe das nicht.«
»Wir wissen noch nicht genau, wie der Pulli in seinen Besitz gelangt ist. Wir sprechen im Moment mit ihm. Sobald es etwas Genaues gibt, werden wir Sie natürlich informieren.«
»Vielleicht würdest du dich gerne etwas hinlegen?«, sagte Andrew. »Nur für einen Augenblick. Ich bringe dir einen Tee.«
Ruth nickte und ließ sich – plötzlich völlig erschöpft – wie ein Kind wegbringen.
Von dem Augenblick an, als er das Polizeirevier betreten hatte, war Simon wie ausgewechselt gewesen: viel ruhiger, kontrollierter, bisweilen auf fast servile Weise hilfsbereit – alsnähme er aktiv an einer laufenden Ermittlung teil und wäre nicht ihr Gegenstand, wie es der Fall war.
Als er hinten im Wagen neben Jim Straley gesessen hatte, war er ruhig gewesen und hatte nur ein- oder zweimal, während sie das Fenland durchquerten, eine Bemerkung über den Wasserstand in dem Graben gemacht, der in den Fluss Lark führte, und dann auf ein Fasanenpaar hingewiesen, das am Feldrain aufgeschreckt wurde, als sie vorbeifuhren. Ansonsten hatte er stumm dagesessen und fast gelächelt.
»Nein«, hatte seine Antwort gelautet, als er gefragt wurde, ob er gerne mit einem Anwalt Kontakt aufnehmen wolle. »Ich denke nicht, dass das notwendig ist, was meinen Sie?«
Will gefiel nicht, was da vor sich ging, er traute dem Frieden nicht. Waren all die Mätzchen und der theatralische Zusammenbruch eine Schau gewesen oder war das hier die Schau? Es
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