Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
Vom Netzwerk:
hinaus. Zu sehen war aber nur ihr eigenes Spiegelbild, das sich auf dem Glas abzeichnete. Langsam, leise begann sie zu weinen.
     
    Lorraine kratzte die Reste von Jakes Nudeln in den Mülleimer und spülte den Teller unter heißem Wasser ab. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie alles, was die Kinder nicht aufgegessen hatten, umgefüllt, mit Klarsichtfolie bedeckt und in den Kühlschrank gestellt hatte, um es später zu verwenden. Dann passierte immer das Gleiche. Die Reste wurden ganz nach hinten geschoben, Lorraine entdeckte sie fünf Tage später, wenn sie begannen, langsam vor sich hin zu schimmeln, und war wütend auf sich selbst, dass sie sich nicht früher darum gekümmert hatte. Inzwischen waren diese Tage des vorausschauenden Wirtschaftens vorbei. Was immer auf den Tellern liegen blieb, wanderte in den Müll. Ohne Reue.
    Sie sah auf die Uhr: Will würde nicht so bald nach Hause kommen, das wusste sie genau. Einen potenziellen Tatort verlassen, wo vielleicht eine Leiche gefunden wurde   – Lorraine lächelte   –, dafür kannte sie ihn zu gut.
    Beide Kinder hatten sich bemerkenswert leicht zu Bett bringen lassen; die Tatsache, dass Will am Telefon mit ihnen gesprochen hatte, tröstete sie über seine Abwesenheit zur Schlafenszeit hinweg. Bevor Lorraine überhaupt mit demVorlesen fertig war, waren Susie die Augen zugefallen und selbst Jake hatte sie ein paarmal geschlossen.
    Seither war alles ruhig gewesen.
    In der Küche blätterte sie die Seiten einer Zeitschrift um: Rezepte, die sie niemals ausprobieren würde, Kleider, die sie niemals tragen würde. Als es an der Haustür klingelte, fuhr sie zusammen.
    Durch das Guckloch, auf dessen Einbau Will bestanden hatte, als sie einzogen   – »Nur für den Fall, dass die Einheimischen nicht freundlich sind«   –, konnte sie die Uniform des Beamten sehen, der draußen stand.
    »Ich bin’s nur, Mrs Grayson«, sagte er lächelnd, als sie die Tür öffnete. »Von Rechts wegen müsste ich jetzt Schluss machen. Ist schon nach neun. Eine Ablösung kommt aus Cambridge. Ist vielleicht aufgehalten worden. Ich könnte noch ein bisschen bleiben, wenn Sie wollen.«
    »Nein, nicht nötig. Alles in Ordnung.«
    »Wenn Sie ganz sicher sind.«
    Sobald er gegangen war, kümmerte sich Lorraine darum, dass die Tür abgeschlossen und verriegelt wurde. Mehr aus Gewohnheit als aus einem anderen Grund kontrollierte sie die Fenster: alle gesichert. Die Schiebetür aus Glas, die in den Garten führte, war fest zu, aber nicht verriegelt, und sie drückte den Metallhebel nach unten, um sie sicher zu verschließen.
    Im Fernsehen lief eine dieser Sendungen über die Suche nach einem neuen Haus, höchstwahrscheinlich eine Wiederholung: Ein Paar wollte sein Appartement in einem schicken Teil von Nordlondon für ein Bauernhaus in den Yorkshire Dales eintauschen, damit die Frau in einem der Nebengebäude eine Filzwerkstatt einrichten konnte, während er in der Scheune seine neu gegründete Firma für Computer-Software betrieb.
    Nachdem sie gerade mal fünf Minuten zugesehen hatte   – der Mann mit seiner randlosen Brille und einem Halstuch von Paul Smith nervte besonders   –, entschied sie, dass sie etwas zu trinken brauchte. Ein Glas Wein, warum nicht? Im Kühlschrank stand eine bereits geöffnete Flasche.
    Sie nahm sie gerade heraus, als sie ein Geräusch hörte.
    »Hallo.« Er sprach im selben Moment, als sie sich umdrehte.
    Ihr Herz schien im freien Fall nach unten zu sausen.
    Roberts lehnte lässig am Türpfosten. Eine abgewetzte Lederjacke und Tarnhosen, dunkle Turnschuhe an den Füßen, graue Fausthandschuhe an den Händen. Er lächelte.
    »Sie wissen, wer ich bin?«
    »Ja.«
    »Sie haben mein Bild schon ’n paarmal gesehen, schätze ich?«
    Lorraine antwortete nicht, ihre Gedanken rasten zu schnell, beschleunigten sich zusammen mit ihrem Puls. Wie   …?
    Er las ihre Gedanken.
    »Sie ham wohl gedacht, Sie sperren mich aus, wenn Sie den Riegel an der Tür da umlegen.« Er lachte, schrill und kurz. »In Wirklichkeit ham Sie mich eingesperrt.«
    »Was wollen Sie?«, sagte Lorraine und erkannte ihre eigene Stimme nicht.
    »Ihre Kleinen sind beide oben, oder? Schlafen fest?«
    In Panik wollte sie in Richtung Diele und Treppe stürzen, an ihm vorbei, aber er packte sie am Arm und zog sie zurück.
    »Als ich zuletzt nachgesehen hab, haben sie geschlafen wie Babys. Wie diese Kinder im Wald.« Er lachte noch einmal und zeigte seine langen verfärbten Zähne. »Wir wissen ja,

Weitere Kostenlose Bücher