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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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beste Freundin war. Zu anderen Zeiten war sie ruhig und sprach fast gar nicht   – wie vorletzte Woche, als Ruth am frühen Abend in der Küche stand und niemand sonst zu Hause war, weil Andrew sich hatte breitschlagen lassen und mit Beatrice nach Cambridge gefahren war, um eine Wiederaufführung von ›Brücke nach Terabithia‹ im Kino zu sehen. Plötzlich war Heather da: Gespiegelt im dunklen Fenster, kam sie langsam auf Ruth zu und lächelte. Sie blieb erst stehen, als sie direkt neben Ruth war und dann griff sie nach ihrer Hand. Ihre Finger in Ruths Hand fühlten sich klein an, die Nägel waren abgekaut.
    Sie hatten kaum ein Wort miteinander gesprochen.
    Ruth hatte sie nur gefragt, ob sie etwas trinken wolle,Saft oder eine heiße Schokolade, vielleicht einen Keks, aber Heather hatte den Kopf geschüttelt. Sie war glücklich. Alles in Ordnung.
     
    Manchmal, wenn sie Heather sah   – wie an dem Abend in der Küche   –, war es die Heather von damals: zehn Jahre alt, gerade mal zehn, gerade erst war ihr Geburtstag gewesen; dunkles Haar, dunkler noch als Ruths, so lang, dass es fast den halben Rücken hinunterreichte. Wie Rapunzel, sagte sie immer. Wie Rapunzel im Turm. Haare waschen war ein Albtraum, sie richtig trocken zu bekommen noch schlimmer. Knoten und Verfilzungen, die sich nicht lösen ließen.
    Und manchmal, wenn Ruth sie sah, war sie älter   – nicht so alt, wie sie wäre, wenn sie noch lebte, aber etwa dreizehn.
    Als hätte sie das Wachsen eingestellt, als Beatrice geboren wurde.

TEIL ZWEI
1995
     

9
     
    Ruth schloss die Augen. Gerade hatte sie wieder einen Tag in der vierten Klasse hinter sich: dreizehn Mädchen und siebzehn Jungen, acht verschiedene Nationalitäten, fünf Religionen, neun Kinder, die Englisch als zusätzliche Sprache lernten, sechs, die kostenlose Schulmahlzeiten bekamen. Wieder ein Tag, an dem die Schüler für das derzeitige Projekt zu den Ägyptern motiviert werden mussten: Mumien, Masken, das riesige Modell einer Pyramide aus Papiermaschee und ein bevorstehender Ausflug ins British Museum.
    Heather, die in eine der anderen Grundschulen des Bezirks ging, hatte sie bedrängt, sobald sie durch die Haustür getreten war. »Mum, warum darf ich nicht? Kannst du mir das mal sagen?«
    Und als sich Ruth hinter ein einfaches und entschiedenes »Darum« geflüchtet hatte, nachdem sie die gleichen Argumente wie am Vortag und am Tag davor ins Feld geführt hatte, war Heather mit empörtem Gemurmel und Türenschlagen in ihr Zimmer gerauscht.
    Ruth machte sich eine Tasse Malzkaffee mit warmer Milch, setzte sich und beobachtete die Blaumeisen oder die vereinzelten Rotkehlchen, wie sie an den dicken Kugeln pickten, die hinten im Garten an einem Strauch hingen.
    Dort saß sie noch, als Simon früh von der Arbeit nach Hause kam. Nach einer Sitzung zur möglichen Parkraumerweiterung im Norden des Bezirks hatte er beschlossen, nicht ins Büro zurückzukehren.
    »Wo ist Heather?«
    »Sie ist oben und schmollt.«
    »Weswegen denn jetzt?«
    »Noch immer dasselbe.«
    Simon lockerte die Krawatte, zog sein Jackett aus, hängte es über eine Stuhllehne, streckte seine Arme und nahm dann eine bereits geöffnete Flasche Sauvignon Blanc aus dem Kühlschrank.
    »Du auch?«
    Ruth schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht.«
    »Ich brauch einen Schluck.«
    »Hektischer Tag?«
    »Langweilig. Heute Nachmittag bin ich mindestens zweimal eingenickt.«
    »Du könntest doch kündigen. Wenn du dich wirklich langweilst, meine ich. Häng den Job an den Nagel.«
    »Und was soll ich dann tun?«
    »Ich weiß nicht. Du könntest dein eigenes Büro aufmachen. Bilanzbuchhaltung. Du hast doch die Qualifikation dafür.«
    Simon probierte den Wein. »Zu risikoreich. Mit unserer Hypothek möchte ich gerne ganz genau wissen, was wir Monat für Monat verdienen.«
    »Wenn du wirklich unglücklich bist, könnten wir verkaufen und uns etwas Kleineres suchen.«
    »Nein, ist in Ordnung.« Er beugte sich vor und wollte sie auf den Kopf küssen, aber er zielte daneben und küsste die Luft. »Nur ein blöder Tag. Eine blöde Woche. Aber das wird vorbeigehen. Außerdem willst du bestimmt nicht schon wieder umziehen, oder?«
    »Nicht, wenn wir es vermeiden können.«
    »Na, siehst du.«
    Vor etwas über zwei Jahren hatten sie ihre Vierzimmerwohnung mit den hohen Räumen in Muswell Hill verkauft und mithilfe eines alten Freundes von Simon, einem Hypothekenberater,ein dreistöckiges Haus am Rand von Kentish Town gekauft   – im

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