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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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zurück. »Du nicht?«

10
     
    Heather war oben in ihrem Zimmer, dessen Wände ein Barometer des raschen Wandels waren: Ponys, Kätzchen, der Nachthimmel; ein Plakat von ›Der Nussknacker‹ im Royal Ballet neben einem anderen mit den Mitgliedern von Boyzone, die schlecht gelaunt, aber voll cool aussahen. Urkunden fürs Schwimmen, für die Pünktlichkeit und für die Blockflöte. Einladungen zu Partys. Die Vergrößerung eines Fotos, auf dem Heather und ihr Großvater auf einem Felsvorsprung standen und in den Wind lachten. Es war beim Aufstieg auf den Helvellyn geknipst worden, bevor ihr Großvater Schwierigkeiten mit den Knien bekam.
    An ihrer Schranktür hatte Heather eine Collage aus weiteren Fotos angebracht, und zwei davon fielen Ruth besonders ins Auge: Heather, die ein Haarband, ein geblümtes Oberteil und blau getupfte Caprihosen trug, saß glücklich auf einem herrlich altmodischen Karussellpferd   – durch und durch ein kleines Mädchen   – und Heather nur sechs Monate später, feingemacht für die Schuldisco: ein am Ausschnitt gekräuseltes malvenfarbenes T-Shirt , eng genug, um entstehende Brüste zu zeigen, hautenge kurze Jeans, ein Anflug von Make-up an den Augen.
    An diesem Abend hatte Heather kaum getanzt, sondern war unter schrillem Geschrei mit ihren Freundinnen durch die Gegend gerannt, und wenn sie getanzt hatte, dann mit einer Gruppe von Mädchen, die den Text mitsangen und den anderen das Wirbeln der Arme, das Schwingen und Kreisen der Hüften und die Bewegungen der Füße nachmachten   – der einzige Kontakt zu Jungen hatte darin bestanden, sieverächtlich zur Seite zu schieben   –, aber trotzdem war es unverkennbar ein Anfang: der erste Schimmer der Zukunft.
    Ruth, die mit den anderen Müttern und ein paar widerwilligen Vätern die Rolle des Anstandswauwaus spielte, hatte einen Schmerz verspürt und weggesehen.
    Jetzt saß Heather im Schneidersitz auf ihrem Bett, den Kopf gesenkt, die Arme über der Brust verschränkt. Das Bett selbst war zur Abwechslung mal gemacht: die Steppdecke gerade gezogen, die Kissen aufgeschüttelt. Am Kopfende saß eine alte Puppe. Sie war entweder dort entsorgt oder mit Absicht hingesetzt worden, das wusste Ruth nicht. Die meisten Kleidungsstücke ihrer Tochter schienen sich in den Schubladen zu befinden, in die sie gehörten; Schuhe und Turnschuhe waren ordentlich an der Wand aufgereiht. Die Bücher standen etwas planlos im Regal, auf dem Boden häuften sich Comics mit Mädchengeschichten. Die Hausaufgaben lagen unvollendet auf dem Schreibtisch.
    »Was machst du?«, fragte Ruth.
    »Wonach sieht es denn aus?«, gab Heather pampig zurück.
    Ruth hielt die Luft an und ließ sich nicht provozieren. »Ich weiß nicht«, sagte sie ruhig.
    »Es gibt nichts zu machen«, sagte Heather und legte die Betonung auf das »nichts«.
    Ruth sah sich um. »Du hast Unmengen von Büchern und Spielen   – deine Tante Vicky hat dir doch diesen Kasten mit Schmuck zum Selbermachen geschickt   …«
    »Das meine ich nicht.«
    »Was meinst du dann?«
    »Das weißt du.«
    Ruth wusste es sehr gut. Heathers Freundin Kelly hatte einen eigenen Fernseher im Zimmer   – wie die meisten ihrer Freundinnen, wenn man Heather glauben durfte. Eine oder zwei hatten sogar einen Computer.
    »Wie soll ich denn meine Hausaufgaben machen«, hieß es refrainartig, »wenn ich keinen Computer habe?«
    »Du brauchst keinen Computer, um deine Hausaufgaben zu machen. Wir haben unzählige Nachschlagewerke im Haus, und wenn die nicht ausreichen, gibt es immer noch die Bücherei.«
    »Na prima, ich soll wohl den ganzen Weg dahin gehen, nur um etwas nachzuschlagen. Nee, danke.«
    »Und außerdem, wenn es wirklich wichtig ist, steht unten der Computer deines Vaters.«
    »Den er immer benutzt, wenn ich ihn mal brauche. Entweder das oder du siehst etwas über die Römer oder die Ägypter oder sonst was Ultralangweiliges für die Schule nach.«
    »Das ist nicht wahr.«
    »Nein?«
    »Nein.«
    Es war ein Dialog, den sie allzu oft geprobt und wiederholt hatten. Aber Ruth und Simon hatten die Sache durchgesprochen und waren sich einig: Wenn Heather älter und der Gebrauch eines Computers wirklich hilfreich für sie war, würden sie einen für die Familie kaufen und im Wohnzimmer in einer Ecke aufstellen, damit sie ihn am frühen Abend und an den Wochenenden als Hilfe für ihre Hausaufgaben benutzen könnte. Auf keinen Fall wollten sie, dass sich Heather in ihrem Zimmer verkroch und online ging, ohne dass sie

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