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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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nahm.
    In der Stadt saß er eine Weile auf einer niedrigen Mauer beim Busbahnhof und rauchte eine Zigarette, dann machte ersich über die Sidney Street auf den Weg zur Magdalen Bridge. Fünfzehn Minuten später hatte er die Richtung gewechselt und spazierte zwischen den Ständen auf dem Markt herum, blieb hier und da stehen und sah sich altes Silbergerät, einige Messer und eine Sammlung von sepiabraunen Postkarten an. Einmal lief ein Schulmädchen in Uniform und einem weißen Band im Haar an der Hand seiner Mutter direkt hinter ihm, aber er schien es kaum zu bemerken.
    Als Will ihm durch die Biegungen der engen Straßen und Durchgänge zwischen der Market Street und der Guildhall folgte, glaubte er schon, er hätte ihn verloren, aber dann trat Roberts plötzlich aus einem Eingang und blieb direkt vor ihm stehen.
    »Inspector Grayson.«
    »Ja.«
    Er war schlanker als früher, die Falten in seinem Gesicht hatten sich tiefer eingegraben, und auf dem Handrücken hatte er Leberflecken.
    »Kleine Einkaufstour?«
    Will schüttelte den Kopf.
    »Dann ist es also kein Zufall?«
    »Nein.«
    Roberts nickte bedächtig. »Hab Sie neulich gesehen. Im Park. Sie zeigen Interesse, das is’ echt nett. Verantwortungsgefühl, schätze ich mal. Is’ auch richtig. Schließlich haben Sie mich in den Knast gebracht.«
    Etliche seiner Zähne waren gelb verfärbt, wie Will sofort bemerkte; einer der vorderen war an der Ecke abgebrochen.
    »Dafür haben Sie selbst gesorgt«, sagte Will.
    »Ach ja.« Ein Lächeln umspielte Roberts’ Mund. »Das arme Mädchen.«
    Will beherrschte sich. Mit Mühe.
    »Haben Sie Kinder?«, fragte Roberts, und, als Will nicht antwortete: »Ich würde sie gern mal kennenlernen.«
    Wenn er Roberts nicht ins Gesicht boxen wollte, blieb Will nur eine Möglichkeit: sich auf der Stelle umzudrehen und zu verschwinden.

8
     
    Sie sah sie. Heather. Sie hatte es ihrem Mann nie erzählt. Sie hatte es keinem ihrer Ehemänner erzählt. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würden. Sie wusste nur, dass keiner von beiden ihr glauben würde.
    Andrew, glaubte sie, würde ein wenig müde zuhören und dann versuchen, nicht herablassend zu sein, wenn er es rational erklärte: eine Projektion ihres Verlusts, das Resultat einer allzu intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit. Wenn sie sich nur nicht so an Heathers Sachen klammern würde, sondern sich dazu überwinden könnte, einige davon zu entsorgen oder   – wenn das nicht ging   – wenigstens wegzuschließen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und sie könnte doch mit ihrem Arzt sprechen, warum eigentlich nicht? Vermutlich gab es Pillen. Oder eine Therapie, das gab es doch immer. Vielleicht sogar Yoga.
    Simon würde verständnisvoller sein, zumindest vordergründig. Er war es schließlich gewesen, nicht sie, der sich diesen Selbsthilfegruppen angeschlossen hatte, zu den Treffen gegangen war und Stunden damit verbracht hatte, im Internet Erfahrungen auszutauschen. Er würde ihr vermutlich raten, das Gleiche zu tun. Sich auszutauschen. Nicht alles in sich hineinzufressen: Das war das Schlimmste, was sie tun konnte. Sie müsste mit anderen Betroffenen, anderen Opfern reden   – denn das waren sie. Sie waren auch Opfer.
    Aber ein solcher Austausch bedeutete, dass sie Heather mit anderen teilen musste, und das wollte Ruth auf keinen Fall. Es jemandem zu erzählen   – Simon, Andrew, irgendjemandem   – wäre Verrat. Ein Vertrauensbruch. Ruth befürchtete,dass Heather nicht mehr zu ihr kommen würde, sobald das Vertrauen dahin war. Das war ihre größte Angst.
    Ein Gesicht in einem Fenster, das Winken einer Hand aus einem vorbeifahrenden Zug; eine Gruppe von Schulmädchen, die ungeduldig an einer Kreuzung wartete, und Heather war die Einzige, die den Kopf abgewandt hatte; im Schwimmbad ein Ruf und ein Platschen und dann das vertraute Kraulen, bei dem die Füße das Wasser heftig spritzen ließen.
    Aber das waren nur flüchtige Blicke, Momente, die ihr geschenkt wurden, kleine Beweise, die Ruths Herz springen ließen. Beweise, die sie nicht infrage zu stellen wagte, damit sie nicht verschwanden.
    Wonach sie sich sehnte, waren die selteneren Gelegenheiten, bei denen Heather zu ihr kam, wenn sie allein waren. Manchmal war sie fröhlich und es sprudelte nur so aus ihr heraus, wer was gesagt oder wer im Unterricht dieses oder jenes getan hatte, wer Wochenbeste oder Wochenbester war und wer draußen im Korridor stehen musste, wer auf dem Spielplatz wen geschubst hatte, wer ihre neue

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