Schrei Aus Der Ferne
Game-Show.
»Tina«, rief Pauline Efford. »Stell das leiser.«
Ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen, drücktedas Mädchen auf die Fernbedienung, sodass die Stimmen zu einem aufgeregten Flüstern wurden.
Heather war nach oben in Kellys Zimmer verschwunden, sobald sie angekommen waren, und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.
Pauline kam mit zwei Bechern Tee herein. Ihr eigener trug die Aufschrift
Best Mum in the World
. Sie setzte das Baby mit einem Schnuller im Mund an die Sofalehne und griff nach ihren Zigaretten.
»Schreckliche Angewohnheit, ich weiß«, sagte sie, als Ruth die angebotene Zigarette ablehnte. »Ich sag mir immer wieder, dass ich aufhören müsste, aber es ist einfach aussichtslos, solange Alan auch raucht.«
»Und Kelly …«, begann Ruth.
»Ob sie raucht? Ausgeschlossen. In dem Fall würde sie Bekanntschaft mit meiner Hand machen.«
Ruth trank ihren Tee.
»Kelly is’ ganz aus ’m Häuschen, weil Ihre Heather mitkommt. Eine Freundin in ihrem Alter. Auf dem Campingplatz sind noch andere Mädchen, mit denen sie sich manchmal zusammentut, aber das ist nicht das Gleiche. Und Lee ist jetzt fast fünfzehn und zieht meistens alleine los. Der will natürlich nicht, dass sich seine kleine Schwester an ihn dranhängt und im Weg ist. Wirklich, sie werden sich großartig amüsieren, die beiden. Die wollen bestimmt gar nicht wieder nach Hause.«
»Sie würden doch nicht erlauben, dass sie …«, begann Ruth und zögerte dann.
»Was denn?«
»Nun, dass sie alleine irgendwohin gehen. Zu weit weg, meine ich.«
Pauline wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht. »Gibt nicht viel, wo sie hinkönnen, außer zum Strand runter. DerZeltplatz ist auf einem Feld, auf zwei Feldern, direkt hinter der Straße. Es gibt natürlich Busse nach Land’s End und nach Penzance. Aber die fahren nicht oft. Zweimal am Tag, wenn’s hochkommt. Ansonsten muss man den Wagen nehmen, und Alan sagt immer, wenn er schon den ganzen verdammten Weg gefahren ist, will er keine unnötigen Touren machen. Ist der Tee zu stark?«
»Nein«, sagte Ruth und zwang sich zu einem weiteren Schluck. »Nein, er ist gut.«
In weniger als einer halben Stunde war alles besprochen. An dem Freitag, an dem es Ferien gab, würde Heather mit ihrem Koffer und all ihren Sachen bei Kelly übernachten, damit sie früh am folgenden Morgen aufbrechen konnten, denn Alan wollte dem Verkehr ein Schnippchen schlagen. Zehn Tage später würden sie zurückkommen. Alles ganz einfach.
Ruth bahnte sich gerade ihren Rückweg durch die Diele, nachdem sie erlaubt hatte, dass Heather noch eine Stunde bleiben und spielen durfte, als sich die Haustür öffnete und ein Jugendlicher eintrat. Er trug ein graues Sportoberteil und weite Jeans, die tief auf der Hüfte saßen. Sein Haar war dunkel und überraschend lang, wie Ruth fand, und als er sie für einen kurzen Moment ansah, waren seine Augen von einem weichen Mandelbraun.
»Hallo«, sagte Ruth. »Du musst Lee sein. Ich bin Heathers Mutter.«
Er grunzte etwas, das entfernt wie »Hi« klang, und schob sich mit gesenktem Kopf an ihr vorbei.
11
Am letzten Schultag begleitete Ruth ihre Tochter zum Haus der Effords. Heather war dermaßen aufgeregt, dass sie beinahe in einen Laternenpfahl lief und auf den unregelmäßigen Pflastersteinen mehrmals zu fallen drohte.
Ausgelaugt von ihrem letzten Unterrichtstag und mit Heathers Koffer in der Hand stolperte Ruth ihrerseits auf dem Weg, der zur Haustür führte.
»Haben Sie sich schon ’n Gin genehmigt?«, fragte Alan Efford mit einem Grinsen. Mit breitem Gesicht und geschorenem Kopf stand er in seiner Arbeitskleidung mit nackten Armen in der Tür, mit Gips- und Farbflecken gesprenkelt wie ein Gemälde von Pollock. »Bei Ihrem Beruf«, sagte Efford, »wo Sie sich den ganzen Tag um diese kleinen Satansbraten kümmern müssen, würde das keinen wundern.« Heather rannte an ihm vorbei ins Haus. »Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen«, fuhr Efford fort. »Also ich hätte nicht die Geduld dafür.«
Ruth merkte, dass sie ihn stumm und dumm anstarrte.
»Hier«, sagte er und kam auf sie zu, »geben Sie her.«
»Nein, ist in Ordnung, ich …«
Als er nach dem Koffer griff, streifte sein Arm ihren Handrücken und unfreiwillig zuckte sie zusammen.
»Kommen Sie doch einen Moment rein. Pauline muss irgendwo stecken.«
Sie konnte seinen Schweiß riechen und den Tabak in seinem Atem.
»Kommen Sie, nur zu.«
Sie folgte ihm ins Innere des Hauses.
Pauline trug eine
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