Schrei Aus Der Ferne
drückte ihre Hand. Die Bar am westlichen Ende der Île mit ihren Korbstühlen und Marmortischen auf der Ecke des Gehsteigs sah einladend aus.
»Es ist noch früh«, sagte Simon. »Wir könnten noch etwas trinken, bevor wir schlafen gehen, was meinst du?«
»Das wäre schön.«
»Ist es warm genug, um draußen zu sitzen?«
»Ich denke schon.«
Simon bestellte Cognac und Kaffee, Ruth ein Glas Weißwein. Ein Boot fuhr langsam vorbei und schien das schwarze Wasser kaum in Bewegung zu bringen. Musik spielte darauf, Paare winkten von der Reling herüber. Es dauerte mehrereAugenblicke, bis Ruth merkte, dass ihr Telefon in der Handtasche läutete.
»Hallo?«
Sie würde sich immer an diesen Moment erinnern, an die bunten Lichter, die sich im Wasser spiegelten, an den Marmor der Tischplatte, der sich so kühl unter ihrem Handgelenk anfühlte, an die Worte, die trotz der Entfernung und des leisen Zitterns in Alan Effords Stimme auf keinen Fall missverstanden werden konnten.
»Ja«, sagte sie. »Ja, natürlich. Sofort. Sobald wir können.« Sie unterbrach die Verbindung und legte das Telefon weg.
»Was ist los?«, sagte Simon. »Was ist passiert?«
»Heather ist verschwunden.«
12
Gleich nach dem Mittagessen – je eine halbe Fleischpastete, süße Teilchen und Pommes frites mit Salz und Essig – bettelten die beiden Mädchen Pauline um Geld für den Laden an.
»Wofür denn, um Himmels willen?«
»Eis«, sagte Kelly.
»Schokolade«, sagte Heather.
»Was denn nun? Entscheidet euch.«
»Beides«, sagten die Mädchen im gleichen Atemzug und lachten, als wäre es das Witzigste, was sie je gehört hätten.
Heathers Eltern hatten ihr natürlich Taschengeld gegeben, aber irgendwie war es ihr gelungen, das meiste davon in den ersten paar Tagen auszugeben: bei unzähligen Besuchen des Ladens auf dem Campingplatz, um Süßigkeiten und Limonade zu kaufen, von denen ihre Mutter immer sagte, sie würden ihre Zähne ruinieren, und für Glitzerzeugs in dem Geschäft für modischen Kleinkram bei ihrem einzigen Ausflug nach Penzance. Eine goldene Kette mit ihrem Namen in Fantasiebuchstaben war ihr Lieblingsstück, das sie aber gut verstecken musste, wenn sie wieder zu Hause war, weil sie Angst hatte, dass ihre Mutter Zustände kriegen würde.
»Mum!«, sagte Kelly. »Komm schon.«
»Na gut«, seufzte Pauline und wühlte in ihrem Portemonnaie. »Aber es ist das letzte Mal. Und bring was für deine Schwester mit.«
»Ich will mit«, sagte Tina und stand eilig auf.
»Spinn dich aus!«, antwortete Kelly, riss ihrer Mutter das Geld aus der Hand und rannte aus dem Zelt, dicht gefolgt von Heather.
Der Laden war ein langes einstöckiges Gebäude mit verwitterten grünen Wänden und Drahtgeflecht vor den Fenstern. Von Gasflaschen und Grillbriketts über Coladosen, Backofen-Pommes-frites und Fischstäbchen bis zu Zahnpasta und Ansichtskarten von Land’s End und Sennen Cove konnte man dort so gut wie alles kaufen. Am Ende der Zufahrtsstraße zwischen dem Zelt- und dem Wohnwagenplatz gelegen, war er der Mittelpunkt für alle und jeden, nicht zuletzt für die Gang von acht oder neun Jungen um die sechzehn, die in unterschiedlichen Surfoberteilen und Shorts oder abgeschnittenen Jeans herumlungerten, ziemlich unverhohlen Zigaretten rauchten und gelegentlich auch genug Energie für ein schlecht gelauntes Fußballspiel aufbrachten.
Als Kelly und Heather aus dem Laden kamen und knallige lila Slush Puppies schwenkten – Flip-Flops an den Füßen und auf ihren gebräunten mageren Körpern knappe Tops, fast schon Bikini-Oberteile –, gaben einige der Jungen Geräusche einer spöttischen Anerkennung von sich.
»Haut ab!«, rief Kelly in ihre Richtung, senkte dann die Stimme und sagte zu Heather: »Siehst du, ich hab dir ja gesagt, dass er scharf auf dich ist.«
»Wer?«
»Der Schmuddelige mit den Pickeln.«
»Vielen Dank!«
Kelly bog sich vor Lachen, und als sie sah, dass ihr Bruder auf sie zukam, fügte sie lauter als zuvor hinzu: »Lee ist das auch. Stimmt’s, Lee?«
»Was soll ich sein?«
»Scharf auf Heather.«
»So ein Schwachsinn!« Er schob zwei Finger in den offenen Mund und mimte Erbrechen.
»Krass!«, sagte Kelly, und kichernd machten sich die beiden Mädchen davon.
Pauline gelang es schließlich, das Baby zum Schlafen zu bringen, und sie nutzte die Gelegenheit, auch ein Nickerchen zu machen, sodass es Alan zufiel, Tina zu amüsieren. Zunächst versuchte er, mit einem schlecht aufgeblasenen
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