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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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und Stelle, bevor sie sie auf eine Tragbahre banden und diese nach oben zogen.
    Cordon hielt den Atem an, als die Tragbahre vorsichtig auf den Boden gesetzt wurde. Wo sie sichtbar war, hatte die Haut bereits eine grünliche Färbung angenommen, an den Waden und Oberarmen waren marmorierte Stellen zu sehen. Eine lange Schnittwunde an der Stirn war dick verschorft, und auf beiden Seiten des Gesichts gab es Kratzwunden, auf denen das Blut in dünnen Linien getrocknet war. Auch an den Beinen und Armen befanden sich Kratzer und Anzeichen von Blutergüssen   – so wie man sie bei einem Sturz erwarten würde, dachte Cordon. Das langärmelige Baumwolloberteil, ursprünglich hellblau, das sie über ihrem T-Shirt getragen hatte, war zerrissen und wies hier und dort dunkle Stellen auf, die von Öl stammen konnten, aber höchstwahrscheinlich Blutflecken waren.
    Ihre Füße waren nackt.
    Es gab keinen Zweifel, dass es sich um das vermisste Mädchen handelte.
    Ein Ende, dachte Cordon. Für ihn allerdings ein Anfang.
     
    Ruth und Simon hatten im hinteren Schankraum gefrühstückt, der auch als Essraum diente, und waren dann wieder nach oben gegangen. Seit seinem letzten Ausbruch war Simon ungewöhnlich ruhig gewesen und hatte seine Gedanken für sich behalten. Ruth war zu dem Zeitungsladen an der nächsten Ecke gegangen und hatte einen ›Guardian‹ für sich und einen ›Telegraph‹ für Simon gekauft, die jetzt weitgehend ungelesen auf der Kommode lagen. Am Morgen hatte sie sofort Ann Dyer angerufen und mit ihr gesprochen.Bislang gebe es keine neuen Entwicklungen, hatte sie erfahren. Als es an die Tür klopfte und Ruth aufmachte, erwartete sie halb den Wirt oder jemanden, der das Zimmer putzen wollte. Deshalb war sie betroffen, als sie Ann Dyer mit ernstem Gesicht dort stehen sah.
    »Mrs Pierce   …«
    »Ist etwas passiert? Heather, Sie   …«
    »Ich denke, es ist besser, wenn ich hereinkomme.«
    Ruth trat unsicher zurück und hielt die Hand an den Hals, als Dyer an ihr vorbeiging und hinter sich die Tür schloss.
    Simon stand wie gestrandet zwischen Fenster und Bett.
    »Vor einer guten Stunde«, begann Dyer, »wurde die Leiche eines Mädchens gefunden   …«
    Ruth erbrach sich zwischen ihren Fingern, und Dyer, die schnell auf sie zusprang, fing sie auf, bevor sie fiel.
    Mit Simons Hilfe manövrierte sie Ruth zum Bett und setzte sie hin. Ruths Kopf hing fast auf den Knien. Dyer überließ es Simon, sie festzuhalten, und hielt einen Waschlappen unter den Wasserhahn.
    »Es ist Heather«, sagte Simon. »Und es gibt keinen Zweifel?«
    »Es tut mir leid«, sagte Dyer mit einem Kopfschütteln.
    Ohne Vorwarnung kippte Ruths Körper nach vorn und sie erbrach sich noch einmal.
     
    Cordon erreichte die Landspitze und drehte sich in den Wind. Ein Paar spatzengleicher Vögel mit olivbraunen Streifen erhob sich aus dem Heidekraut. Einer folgte dem anderen und ihre schrillen trillernden Laute schraubten sich durch die Luft. Waren es Grasmücken? Pieper? Regenpfeifer? Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er es gewusst. Sein Vater war geduldig gewesen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt   – sieh hin, sieh einfach hin, mach schon: Größe,Gestalt, Gefieder, Farbe, Verhaltensmuster, Bewegung, Gesang.
     
    Größe, Gestalt, Verhaltensmuster   – Polizist zu sein war nicht viel anders.
    Die alten Minen waren der erste Schwerpunkt ihrer Suche gewesen, die Schachtöffnungen, in die das Mädchen vielleicht gefallen war, die Mauern, hinter denen sie vielleicht Schutz gesucht hatte. Viele Leben waren dort im Laufe der Jahre verloren gegangen, was bedeutete eines mehr?
    Ihr gebrochener Körper an der Winde.
    Sie hatten gesucht, aber nicht gründlich genug. Das passierte.
    Ein Polizeipsychiater hatte Cordon einmal erzählt, dass es ein weit verbreitetes Phänomen gab: Niemand wollte derjenige sein, der die Leiche entdeckte, und die Angst davor führte dazu, dass zwar alle suchten, aber niemand etwas sah.
    Cordon war sich nicht sicher, ob er das glauben sollte oder nicht.
    Er ging weiter und blieb dann stehen. Von hier sah er das Maschinenhaus, das sich gegen den Himmel abzeichnete; durch die leeren Bogenfenster der erhaltenen Mauern schien klares Blau; Mörtel und Stein des hohen Schornsteins waren gemustert wie der Hals einer Giraffe.
    Und wenn die Leiche gar nicht dort gelegen hatte, als die erste Suche unternommen wurde? Angenommen, das Mädchen war woanders gestorben? Konnte es sein, dass ihre Leiche versteckt und dann

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