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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Oberschenkel. Ist es jetzt besser? Ruth senkt den Kopf, bis sie das Haar ihrer Tochter weich an ihrem Gesicht spüren und ihren Geruch einatmen kann, ihren Duft. Etwas dreht sich tief in ihrem Inneren, dreht sich und zieht wie eine kleine Faust, die an ihren Eingeweiden zerrt.
     
    Alan und Pauline Efford waren abwechselnd im Krankenhaus und jeweils einer kümmerte sich um Tina und das Baby: Tina war mürrisch, nicht leicht zu amüsieren und immer noch Opfer plötzlicher Ausbrüche von Tränen; Alice schien die allgemeine Stimmung zu spüren, sie war quengelig und verweigerte die Flasche und ihre Nahrung.
    Alan ging mit ihnen an den Strand hinunter, aber das war noch schlimmer: das schrille Kreischen der Möwen, das Lachen der anderen Kinder, wenn sie in die Wellen rannten und wieder herauskamen, Sandburgen bauten, Fangen spielten.
    Dein Kind wurde gefunden, ihres nicht.
    Der Vorwurf in Ruths Augen, der Hass in Simons.
    Als sie zum Campingplatz zurückkehrten, saß Lee im Schneidersitz im Zelt. Er hatte seine Schwester einmal besucht, ganz am Anfang, dann nicht mehr. Er hatte die Hände über die Kopfhörer gelegt, um den Sound zu verstärken, immer wieder dasselbe Stück auf seinem Walkman. Portishead. ›Glory Box‹. Die Stimme der Sängerin war fein und klar, fast wie die eines Kindes, sie kontrastierte mit den Verwerfungenvon Synthesizer und Gitarre und bat um einen Grund zu lieben und zu leben.
    Heather war jetzt seit zwei Nächten und zwei Tagen verschwunden, und schon wieder kam die Dämmerung.
    Ein wenig außerhalb von St Just war Simon auf ein von Gras überwuchertes Amphitheater gestoßen, wo er versuchte, die Bilder, die durch seinen Kopf schossen, unter Kontrolle zu bekommen. Als er kurz vorher den Platz überquert hatte, wo im Bereich vor dem Pub in der Zwischenzeit noch mehr Leute versammelt waren, hatte er sich selbst dabei erwischt, wie er ein Mädchen in einem kurzen dünnen Kleid anstarrte und alle seine Bewegungen verfolgte: Sie warf den Kopf zurück und lachte und gab einen seltsamen kleinen Drei-Schritt-Tanz zum Besten. Als sie sich bewegte, schien das Licht von der nackten Haut ihrer Beine reflektiert zu werden, von der Wölbung und Rundung ihrer Waden und Schenkel, denn der Saum ihres Kleides bedeckte kaum den Po. Er trat näher, sie drehte sich noch einmal, wobei ihre Haare nach hinten schwangen, und er merkte, dass sie fast noch ein Kind war, zwölf oder vielleicht dreizehn. Schnell war er gegangen, weil er sich für seine Gefühle schämte. Und jetzt bei der Erinnerung empfand er wieder das Gleiche.
    Oben in ihrem Zimmer war Ruth auf die Knie gesunken. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit betete sie und wusste nicht, ob sie glaubte oder nicht. Wenn es eine Hölle gibt, dachte sie, dann hier und jetzt.

16
     
    Sie fanden sie mehr oder weniger zufällig früh am nächsten Morgen. Ein Freiwilliger aus einem der Suchtrupps   – ein Student, der seine Sommerferien als Rettungsschwimmer am Strand von Sennen verbrachte   – verlor am Eingang eines der alten Maschinenhäuser entlang des Küstenpfads den Halt, der Boden unter ihm gab nach und ließ ihn hinabstürzen. Verzweifelt griff er ins Leere, bis er etwa sieben Meter weiter unten auf einer Plattform landete. Erschrocken blieb er eine ganze Weile reglos liegen. Als sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, war sie da, die Vermisste, nach der sie suchten. Sie lag ihm direkt gegenüber auf der brüchigen Platte, und ihr Kopf war nach hinten auf das rostige Rad einer alten, schon vor Jahren umgekippten Winde gefallen.
    Da er nicht wieder hinaufklettern konnte, weil es keine Haltegriffe gab, die der Rede wert waren, und sein Knöchel dick angeschwollen war, schrie er sich heiser, bis ihn jemand hörte   – kein Mitglied des Suchtrupps, sondern eine Frau mittleren Alters, die zielstrebig in Richtung Land’s End ging   – Kompass, Kartentasche, Fernglas, Rucksack bei sich.
    Schnell kam Hilfe; eine Strickleiter wurde befestigt und hinuntergelassen, immer noch zitternd kletterte der Student langsam herauf. Es dauerte keine fünfzehn Minuten und ein Hubschrauber schwebte über der Szene, dann kamen Landrover und Cordon lief hin und her.
    Froh und erleichtert, dass der junge Mann so glimpflich davongekommen war, fragte Cordon sich zugleich, wie essein konnte, dass die Leiche nicht bemerkt worden war, obwohl der Schacht mit Stablampen abgesucht worden war.
    Zwei behelmte Männer mit Kletterausrüstung fotografierten die Leiche an Ort

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