Schrei Aus Der Ferne
ihrem Proviant: ein spätes Mittagessen, Sandwiches und Obst, Mineralwasser und eine Thermosflasche mit Tee. Cordon war nicht zum Essen gekommen, seit der dringende Anruf am Morgen seine Pläne fürs Frühstück durchkreuzt hatte: dicke Speckscheiben, die bereits auf dem Grill lagen, in Scheiben geschnittene Pilze, die neben der gebutterten Pfanne warteten, und Kaffee auf dem Herd. Seitdem hatte er keinen Hunger verspürt, aber jetzt war er plötzlich da.
Der Vater sagte etwas, das die Kinder zum Lachen brachte, ein Mädchen und einen Jungen, beide noch nicht zwölf; auch die Mutter lachte, alle freuten sich, dass sie zusammen waren.
Obwohl sein eigener Vater nicht unbedingt zu Scherzen aufgelegt war, war Cordon gern mit ihm zusammen gewesen: Wanderungen an der Küste oder ins Landesinnere über die Moore, alles im Voraus geplant, jeder Pfad auf der Karte erforscht, Notizbücher, in die sein Vater ihn alle Einzelheiten eintragen ließ – geologische Merkmale, Wettergeschehen, Tiere, Vögel. In einem späten Anfall von jugendlicher Rebellion hatte er die Notizbücher auseinandergerissen und auf den Müll geschmissen. Jetzt hätte er alles darum gegeben, wenn er sie noch hätte. Und auch seinen Vater, der vor elf Jahren mit dreiundsiebzig gestorben war. Heutzutage war das überhaupt kein Alter.
Cordon vermisste ihn jeden Tag ein wenig.
Hinter ihm gab es Bewegung, als die Familie begann, ihre Sachen einzupacken, um aufzubrechen. Sein eigener Sohn war irgendwo auf der anderen Seite dieses Ozeans und lebte sein eigenes Leben. Ein Kontakt war nicht möglich.
Bei der ersten Untersuchung von Heather Pierces Leiche durch den Pathologen waren nur Verletzungen festgestellt worden, die mit einem schweren Sturz im Einklang standen, keine Anzeichen eines sexuellen oder sonstigen Übergriffs. Es gab keine eindeutigen Hinweise, dass die Leiche bewegt worden war. Auch schien es keine nach dem Tod zugefügten Verletzungen zu geben. Das war also aus Cordons Theorien geworden.
Sein Vorgesetzter war nur allzu bereit, das Kästchen für Tod durch Unfall anzukreuzen.
Auf der Karriereleiter war Jimmy Lambert mit der leisen Finesse einer Siamkatze auf Samtpfoten an Cordon vorbeigeschlichen.Jetzt war er DS Lambert, Detective Superintendent, hatte einen Schreibtisch aus Eiche mit Walnussintarsien, den er aus einem Auktionshaus hatte mitgehen lassen, das am Ende war. Dazu einen Blick auf die Wherry Rocks im Meer draußen. Möwenscheiße auf dem Fenstersims, ein paar Finger dick.
Das Ende eines weiteren Tages war gekommen, und er hatte schon einen Scotch getrunken, vielleicht zwei, Cordon konnte es riechen.
»Also, Trev, ein klarer Fall, ja?«
»Meinen Sie?«
»Heißt das, Sie glauben das nicht?«
Cordon verlagerte sein Gewicht von einer Pobacke auf die andere, denn der Granit draußen bei Cape Cornwall war weicher als die Stühle, die bei Lambert auf der falschen Seite des Schreibtisches standen. »Zu viele unbeantwortete Fragen.«
»Als da sind?«
»Zunächst mal, wie sie dahin gelangt ist, mehr als sieben Meter tief.«
»Sie ist gefallen.«
»Vielleicht.«
»Was denken Sie? Dass sie gestoßen wurde?«
Cordon zog langsam seine knochigen Schultern hoch.
»Was sonst noch?«, fragte Lambert nicht allzu überzeugt.
»Die Zeit. Wie lange sie da gelegen hat.«
»Seit dem Abend, an dem sie verschwand …« Lambert begann, in den Papieren auf seinem Schreibtisch zu wühlen. »Hier, der mutmaßliche Zeitpunkt des Todes …«
Cordon hatte keinen speziellen Grund, Fehler an Wilding, dem Pathologen, zu finden, abgesehen von einer Neigung, den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten als den richtigen anzusehen. Und abgesehen von der Tatsache, dass man ihm fast alles außer Meineid abverlangen konnte, besonderswenn Lambert ein wenig Druck machte. Cordon hatte gehört, dass Wilding seinen Whisky mit ein wenig Wasser mochte, während Lambert, wie er wusste, den seinen pur bevorzugte, wenn die beiden in der Bar des Ship’s Apostle waren, oft genug nach Geschäftsschluss, und Höflichkeiten mit dem Besitzer und seiner Gattin austauschten.
»In dem Maschinenhaus war bereits gesucht worden und es hatte Entwarnung gegeben – finden Sie das nicht merkwürdig?«
»Unaufmerksam, so würde ich das nennen. Unaufmerksam und nachlässig, viel zu nachlässig.« Lambert schüttelte den Kopf. »Wenn man Freiwillige einsetzt, ist das manchmal das Ergebnis. Eine Schande, aber so ist es. Und außerdem scheint sich Wilding ziemlich sicher
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