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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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»Okay.«
    Ein paar Minuten später, als sie ihren Tee ausgetrunken hatte, war sie bereit zu gehen. Eine unbeholfene Umarmung, ein schneller Abschied. Ruths Beine drohten unter ihr einzuknicken, als sie losging.

20
     
    Am nächsten Tag war es etwas kühler, die Luft war verträglicher, ein Wind blies vom Meer nach Südwesten. Ein Blick auf den Himmel und Cordon griff für den Fall der Fälle nach seiner alten Regenjacke. Wie es in der Redensart hieß, änderte sich an diesem Teil der Küste das Wetter häufiger, als eine Hure ihr Leibchen wechselte.
    Niedliches Wort, dachte Cordon: Leibchen   – es zaubert etwas Kompliziertes und Altmodisches herbei; Rüschen und Faltenbesatz.
    Der Weg über die Klippe nach unten war ihm inzwischen nicht mehr fremd, die Ziegen grasten nach wie vor und fraßen mit gesenktem Kopf Seemangold, Adlerfarn und die Spitzen von Ginster. Dieselbe Katze, gelbbraun und weiß, die er zuvor gesehen hatte, sprang davon, als er sich näherte, und beäugte ihn tadelnd aus einiger Entfernung.
    Zuerst glaubte Cordon, Gibbens sei nicht da, aber dann stellte sich heraus, dass der sich nur Zeit gelassen hatte, an die Tür zu kommen.
    »Mr Gibbens   …«
    Gibbens blinzelte ins Licht, nachdem er seine Drahtbrille abgesetzt hatte. Eines der Brillengläser hatte einen Sprung.
    »Ob ich wohl noch ein wenig von Ihrer Zeit beanspruchen darf?«
    Im Inneren der Hütte gab es zwei weitere Katzen, eine getigerte und eine schwarze. Sie lagen auf einem alten Flickenteppich vor dem nicht beheizten Paraffinofen und taten so, als schliefen sie. Die Getigerte hob allerdings ein wenig den Kopf und schielte Cordon mit einem gelben Auge an.Gibbens nahm das zerfledderte Taschenbuch vom Stuhl, das er gelesen hatte, und legte es vorsichtig auf den Boden. ›Schuld und Sühne‹. Noch so ein Klassiker der Weltliteratur, den Cordon sich für einen Regentag aufgespart hatte.
    Sein Blick fiel auf den Anfang des Klappentextes:
Ein verstörter Mann begeht das perfekte Verbrechen
. Vielleicht sollte er das Buch doch eher früher als später lesen: zu Forschungszwecken.
    »Ist das Ihr Hobby?«, fragte Cordon mit einem Nicken in Richtung des Buches.
    »Schuld oder Sühne?«, sagte Gibbens mit einem gequälten Lächeln.
    »Lesen.«
    »Hin und wieder.«
    »Wissen Sie noch, dass ich Ihren Namen kannte, als wir uns das erste Mal begegnet sind? Ich hatte ihn hier irgendwo drin.« Cordon klopfte gegen seine Schläfe. »Jetzt ist mir klar, warum.«
    Gibbens sah ihn an, sagte nichts und befingerte den Rand seiner Brille.
    »Sie hatten einen Sohn. Er hat Selbstmord begangen. Vor sechs, fast sieben Jahren.«
    Gibbens blinzelte und hielt die Luft an.
    »Er hat sich aufgehängt, war es nicht so? An einer Verstrebung unter dem Fischkai drüben in Newlyn.«
    Gibbens nickte so verhalten, dass es kaum zu merken war.
    »Es tut mir leid«, sagte Cordon.
    Gibbens hauchte seine Brillengläser an und rieb sie mit seinem Hemd sauber.
    »Haben Sie Söhne?«, fragte er Cordon nach einigen Augenblicken.
    »Einen.«
    »Lebt er noch?«
    Wie zum Teufel sollte Cordon das wissen? »Er reist. Ist irgendwo in Mittelamerika, wie ich zuletzt gehört habe.« Er sagte nicht, dass das neun Monate her war. Ein Jahr Auszeit, bevor er mit dem Studium beginnen wollte, dachte Cordon. Aber ein Jahr Sendepause?
    »Sieht sich die Welt an«, sagte Gibbens.
    »Etwas in der Art.«
    Die schwarze Katze rekelte sich und gähnte, streckte die Pfoten aus.
    »Es geht um die Nacht, in der Sie draußen waren und Kelly gefunden haben, ich würde die Ereignisse gerne noch einmal mit Ihnen durchgehen.«
    »Ich dachte, das hätten wir schon.«
    »Tun Sie mir den Gefallen. Erzählen Sie es mir noch einmal.«
    Gibbens erzählte seine Geschichte mehr oder weniger genau wie zuvor.
    »Und das andere Mädchen, Heather   …«
    »Was ist mit ihr?«
    »Als Sie über Kelly stolperten und sie hierher brachten, haben Sie keine Spur von Heather gesehen?«
    Gibbens schüttelte den Kopf.
    »Oder nach ihr gesucht? Sie sind nicht später noch einmal hinausgegangen und haben nach ihr gesucht?«
    »Wie denn? Ich wusste ja nicht, dass sie da war.«
    »Kelly hat nichts gesagt?«
    »Kein Wort.«
    »Soweit Sie wussten, war sie allein gewesen?«
    Gibbens nickte.
    Cordon setzte sich auf, spannte seine Rückenmuskeln an. »Nach dem, was man mir erzählt hat, kamen Sie am nächsten Morgen in die Rettungsstation und sprachen von zwei verschwundenen Mädchen.«
    »Was ist daran falsch?«
    »Die verschwundenen

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