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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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während der Beamte die Kiste erst verzeichnete, sie dann vom Schalter hob   – »Was haben Sie da drin, eine Leiche?«   – und ins Lager trug.
    Draußen zeigte das Wetter keinerlei Anzeichen von Veränderung; immer noch war es warm, es gab vereinzelte hohe Wolken, aber kaum Wind, bislang nichts, das Regen verhieß. Die Leute gingen genauso eilig oder gelassen wie zuvor ihren Tätigkeiten nach. In ihrem Zimmer über dem Pub packten Ruth und Simon ihre Sachen, um sie nach unten in den Wagen zu bringen. Seit dem Spruch des Untersuchungsrichters fühlte sich Ruth wie eine Schlafwandlerin, sie konnte sich weder konzentrieren noch zu etwas entschließen; Simon dagegen flüchtete sich in kleine Wutausbrüche und in Versuche, ein Gespräch anzufangen, das allzu bald in sich zusammenbrach.
    »Jetzt haben Sie ja, was Sie wollten«, hatte Lambert verächtlich gesagt, als er Cordon vor dem Gericht traf. »Aber das wird Ihnen ’nen Scheiß nützen.«
    Cordon hielt den Mund. Was er wollte, waren Antworten, aber er wusste, dass er sie vielleicht nie bekommen würde.
    Als er in seine Wohnung zurückkehrte, war sie leer   – kein Trappeln von Hundepfoten auf dem Boden, keine Begrüßung an der Tür: Letitia war gekommen und hatte den Hund ausgeführt. Alles andere war an Ort und Stelle. Er schenkte sich einen kleinen Scotch ein und ging mit dem Glas zum Fenster. Die Sonne, die auf das Wasser fiel, hatte einen metallischen Schimmer.
    Da ich nicht mit Sicherheit festlegen kann, was genau passiert ist

    Er nahm eine CD vom Regal, programmierte die Nummer, die er hören wollte, und ließ sie spielen. Eric Dolphy solo auf der Bassklarinette.
    ›God Bless the Child‹.
    Als Letitia den Schlüssel im Schloss drehte, schlief Cordon tief und schnarchte.

TEIL DREI
     

22
     
    Der Sommer in diesem Jahr war strahlend und kurzlebig, eine berauschende Abfolge von Tagen, in denen die Sonne vom frühen Morgen bis zum späten Abend schien. Die Temperatur hielt sich bei vierundzwanzig Grad, aber der Wind kam mit lediglich fünf Meilen pro Stunde aus östlicher Richtung. Heiß und windstill. Ein aufmerksamer Zuhörer hätte den Knall des Cricketballs auf Weidenholz hören können, der aus den Parks herangetragen wurde.
    Will tat etwas, das er selten machte: Er lief am Ufer des Cam entlang, der hinter den berühmten Colleges dahinfloss, und beobachtete, wie die Besucher träge die Stechkähne in Bewegung brachten   – vermeintlich nach Art lässiger Studenten. Ganz kurz gestattete er sich den Gedanken, dass dieser Sommer endlich das war, was ein Sommer sein sollte.
    Cambridge   – England   – in Höchstform.
    Zu schön, um wahr zu sein!
    Eine Gang von bis zu einem Dutzend Jugendlichen jagt einen Fünfzehnjährigen durch das Stadtzentrum, treibt ihn in die Enge, traktiert ihn mit Fußtritten und ersticht ihn schließlich   – all das wegen eines falschen Wortes, eines falschen Blickes oder eines vermeintlichen Mangels an Respekt; eine weitere Messerstecherei in einer kleinen Stadt im Osten der Grafschaft, wo ein vierzehnjähriges Mädchen aus Eifersucht angegriffen wird, weil es mit dem falschen Jungen in den Durchgang hinter dem Jugendclub verschwindet; eine häusliche Streitigkeit, die sich auf die Straße ausdehnt und darin endet, dass ein Passant, der einzugreifen versucht, mit einem Metallrohr zusammengeschlagen wird.
    Das Erbärmliche und das Alltägliche.
    Das war Wills England.
    Mit einem plötzlichen Sturm und peitschendem Wind endete die Hitze. In einigen Teilen des Landes gab es Warnungen vor Hochwasser und Überschwemmungen, andere wurden von Dürre bedroht.
    Und gerade als er dachte, schlimmer könnte es nicht werden, wurde zwischen Grantchester und Trumpington am Rand eines Parks ein siebzehnjähriger Junge gefunden. Er war ausgezogen und geschlagen und dann kreuzförmig an die Äste eines Baums gefesselt worden; die Rippen zeigten sich unter der fast durchsichtigen Haut; sein ehemals weißes Hemd war voller Blutflecken und die Täter hatten es um seine Genitalien gewickelt. Gesicht und Brust waren mit Kot verschmiert. Seine Augen waren geschlossen. Keine Bewegung, keine Anzeichen von Atmung.
    Erst als die Sanitäter ihn vorsichtig auf eine Tragbahre legten, merkten sie, dass er noch lebte.
    Irgendwo, vielleicht in der Kirche von St Andrew and St Mary in Grantchester, begannen die Glocken zu läuten, um die Menschen zur Abendandacht zu rufen.
     
    Mit den anderen leitenden Beamten im Morddezernat legte Will Mittel

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