Schrei Aus Der Ferne
offensichtlich war, beweisen, dass er recht hatte und Lambert sich irrte?
Wie jämmerlich das war. Wenn jämmerlich das richtige Wort war.
19
Zuerst hatte Ruth es schwer, fast unmöglich gefunden, sich auf dem Küstenpfad dorthin vorzuwagen, wo Heather und Kelly sich verlaufen hatten, wo Heather gefunden worden war. Jetzt aber, besonders seit Simon fort war, hatte sie Schwierigkeiten fernzubleiben.
Sie trug Sandalen, einen Wickelrock über nackten Beinen, ein ärmelloses Baumwolloberteil und einen Sonnenhut. In ihrer Tasche stieß die Sonnencreme an die Flasche Wasser, als sie den Pfad von St Just hinunter nach Porth Nanven ging. Hoch über der Küste setzte sie sich hin, lehnte den Rücken an einen Felsblock und sah aufs Meer.
Ein Containerschiff, dessen Form sich am Horizont wie eine Kinderzeichnung abhob, bewegte sich langsam von links nach rechts in Richtung Bristolkanal. Weiter vorn wendete ein kleines Boot mit einem ockerfarbenen Segel, wendete dann noch einmal, suchte nach Wind. Sie hatte Heather versprochen, dass sie segeln gehen würden, Freunde von Simon hatten eine Jacht an der Südküste liegen und luden sie immer wieder ein – noch etwas, das sie jetzt niemals tun würden.
Stumm rannen ihr die Tränen übers Gesicht, sie senkte den Kopf und benutzte das lose Vorderteil ihres Rocks, um sie abzuwischen.
Zeit weiterzugehen.
Ein steiler Anstieg – eine Kletterpartie – zu dem südlichen Pfad hinauf machte sie zeitweise kurzatmig und ließ ihr den Schweiß in die Augen und über den Rücken laufen. Mit den Händen auf der Hüfte blieb sie stehen, den harten aufgeheizten Boden unter den Füßen, umgeben von geöffnetenvioletten Blüten inmitten des stachligen Ginsters. Das erste Mal, als Heather das Meer gesehen hatte – nein, halt, halt! –, war in Dorset gewesen, ein Wochenendausflug, Heather war – wie alt? – sechs Monate und steckte in einem Tragetuch; Simon hatte sie über die Wellen gehalten, sodass das Wasser kalt an ihre strampelnden Beine spritzte und sie vor Angst und Wonne kreischen ließ.
Ruths Mund war trocken.
Sie nahm die Flasche Wasser aus ihrer Tasche und trank, bevor sie weiterging.
Ein paar Wanderer mit kompletter Ausrüstung kamen ihr entgegen und traten zur Seite, um sie vorbeizulassen.
Wo eine alte Mine teilweise eingestürzt war, schlängelte sich der Pfad um das Hindernis herum und stieg dann wieder an. Landwirtschaftliche Gebäude mit grauen Dächern standen in einer kleinen Senke, wo sich das Land ebnete. Steinmauern begrenzten die Felder. Der Pfad dazwischen war mit Hasenkot gesprenkelt, gesäumt von Bärenklau und Brennnesseln und führte geradewegs zum Ziel: Wie heftig sie sich auch später einzureden versuchte, sie habe ihn mehr oder weniger zufällig gewählt, sie wusste doch, dass es eine Lüge war.
Alan Efford lag, nur mit einer blauen Shorts bekleidet, auf einer Decke vor dem Zelt: mit dem Gesicht nach unten, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, die Beine ein wenig gespreizt, die Schenkel muskulös, die Haare auf den Schultern verblüffend blond im Licht.
Als sie sich entschlossen hatte umzukehren, war es zu spät.
»Ruth?«
»Ja, hallo, ich …«
»Hab doch gemerkt, dass da jemand ist.« Er drehte sich um, setzte sich auf, kreuzte leicht die Beine und blinzelte in die Sonne.
»Ich dachte, Pauline wäre vielleicht hier. Ich dachte …«
»Nein. Sie ist mit den Kleinen in die Stadt gegangen, um Kelly im Krankenhaus zu besuchen. Hat den Van genommen.«
»Und Lee?«
»Ist irgendwohin. Seit – Sie wissen schon …« Efford schüttelte den Kopf. »War vorher auch nicht gerade gesellig, aber jetzt is’ es ’n Wunder, wenn man ihm zwischen Frühstück und Zubettgehen ein Wort entlocken kann.«
»Er wird darüber hinwegkommen.«
»Glauben Sie?«
»Er fühlt sich verantwortlich. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sage nicht, dass er es ist, nur dass …«
»Ich weiß. Ich weiß.« Er sah weg.
Ruth zeichnete mit der Spitze ihrer Sandale ein kleines Muster auf den Boden. »Ich sollte lieber gehen.«
»Nein. Warum?« Er rutschte auf der Decke zur Seite und machte Platz. »Hier. Gönnen Sie Ihren Füßen mal ’ne Pause. Setzen Sie sich.«
»Nein, nicht nötig …«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Ein Trio halbwüchsiger Jungen mit sonnengebleichten Haaren und Sommersprossen kam an ihnen vorbei. Sie trugen Neoprenanzüge, hielten Surfbretter unter den Armen und lachten.
»Wegen Simon«, sagte Ruth
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