Schrei Aus Der Ferne
… sanft. Als er … Als er …« Sie sah weg.
»Und danach wurden Sie freigelassen?«
»Am nächsten Morgen, ja. Er verband mir die Augen und brachte mich nach draußen zum Transporter. Der Hund war da. Ezra. Ich hörte ihn bellen, direkt neben mir, und dann schob er seine Schnauze an meine Beine, aber der Mann scheuchte ihn weg. Danach hob er mich hoch und steckte mich hinten in den Transporter. Ich wollte, dass Ezra mitkommt, aber er durfte nicht.«
Sie sah Will direkt an.
»Glauben Sie, dass Sie ihn fassen? Bevor er es noch einmal tut?«
»Ja«, sagte Will. »Ja.«
In seiner Stimme lag nicht der geringste Zweifel. Dieses Mal mussten sie es richtig machen.
38
Sie waren in Wills Wagen, und weil er sie darum gebeten hatte, fuhr Helen.
»Solange du nicht auf den Gedanken kommst, dass ich eine Art Chauffeur bin.«
»Puff-eur«, sagte Will. »Was?«
»Puff-eur. So nennt Jake das. Er hat es in einem Buch gelesen. Puff-eur.«
»Er kann schon lesen?«
»Seit Ewigkeiten.«
»Dann kommt er bald auf die Universität.«
»Na ja.«
»Heutzutage können einige Kinder am Ende der Grundschule noch nicht lesen, geschweige denn vorher.« Will grinste. »Er kommt nach seinem alten Herrn.«
»Nach seiner Mum, meinst du.«
Die ansonsten gerade Straße machte eine scharfe Rechtskurve; Helen schaltete runter und verlangsamte den Wagen. Zu beiden Seiten gab es tiefe Gräben, gesäumt mit Schilfgras. Über ihnen blitzte dann und wann die Sonne durch ausgedehnte graue Wolken.
»Ich hätte Roberts letzte Woche verhaften sollen«, sagte Will. »Als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
»Du hattest nichts in der Hand, um ihn festzuhalten. Er wäre freigekommen. Wohlgemerkt, das wäre vielleicht besser gewesen, als ihn zu schlagen.«
»Ich hätte dir das nie erzählen sollen.«
»Du hattest ein schlechtes Gewissen.«
»Glaubst du?«
»Entweder das, oder du hast angegeben.«
Er hatte sich dadurch besser gefühlt, dachte Will, das war die Wahrheit. Obwohl er unmittelbar nach seinem Ausflippen gewusst hatte, dass es ein Fehler war. Die Selbstbeherrschung zu verlieren war etwas für andere Leute – Leute, auf die er herabsah, die er sogar verachtete –, nicht für ihn. Und Roberts wusste das. Er hatte es genossen, trotz der Schmerzen. Dieses Grinsen mit abgebrochenem Zahn, das sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte!
»Hast du deine Kinder jemals geschlagen?«, fragte Helen.
»Nein«, antwortete Will zu schnell. »Natürlich nicht.«
»Nicht mal Jake?«
»Nein. Zumindest nicht richtig.«
»Nicht richtig? Nur so zum Schein, meinst du?«
»Ich meine, vielleicht mal einen kurzen Klaps auf den Hinterkopf, um ihn auf Trab zu bringen. Aber nicht fest. Nichts Ernstes.«
Er merkte, wie sie ihn aus dem Augenwinkel ansah, es war die Art von Blick, den sie Verdächtigen zuwarf, wenn die glaubten, sie hätten sie aufs Glatteis geführt.
»Einmal«, sagte Will, »nur einmal. Als er einen mächtigen Wutanfall hatte – vor zwei, vor fast zwei Jahren – und schrie und kreischte und einfach nicht aufhören wollte. Keine Ahnung, was das ausgelöst hatte. Er stampfte mit den Füßen auf den Boden. Ich sagte ihm mehrmals, er solle aufhören. Am Ende schlug ich ihn zweimal kräftig auf den Hintern.«
»Was ist dann passiert?«
»Was dann passiert ist? Er hat aufgehört.«
»Und seitdem hast du ein schlechtes Gewissen.«
»Eigentlich nicht.«
»Kein bisschen?«
Will fand etwas Interessantes, das er durch das Autofensteransehen konnte: einen Traktor, rot vor Rost, der sich langsam seinen Weg über ein Feld bahnte, eine kleine Schar Möwen im Schlepptau. Wenn Will wütend wurde, sah Jake ihn jetzt mit echter Angst an, jedenfalls manchmal.
»Es muss schwer sein, Kinder großzuziehen«, sagte Helen. »Wie man sie dazu bringt, sich zu benehmen, oder wie man ihnen beibringt, was richtig und was falsch ist. Alles.«
»Für dich ist das kein Problem, du hast ja …« Er brach ab. »Du denkst nicht ernsthaft daran …? Du und Declan?« Er lachte. »Du hättest dir jemanden aussuchen sollen, bei dem es eine Chance gibt, dass er bei der Taufe noch da ist.«
»Sehr witzig, Will. Aber es ist sowieso vorbei.«
»Seit wann?«
»Seit ich es ihm gesagt hab.«
Will sah sie von der Seite an. »Hattet ihr Streit?«
Helen schüttelte den Kopf. »Ich hatte es nur satt, verarscht zu werden.«
»War auf keinen Fall vorschnell, könnte man sagen.«
»Na ja, wir haben nicht alle deinen klaren Kopf und deine
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