Schrei Aus Der Ferne
auch?«
»Komm, Will«, sagte Helen, die merkte, wie er sich verspannte. »Lass uns gehen.«
»Glaubst du, er lügt?«, fragte sie, als sie wieder beim Wagen waren.
»Ich glaube, er genießt es, uns blöd zu kommen. Ob noch mehr dran ist, kann ich nicht sagen.«
Helen griff nach ihrer Tasche und suchte ihre Zigaretten. »Was ist das überhaupt für einer?«
»Lansdale? Hat vor längerer Zeit mal gesessen, weil er Fahrzeuge verkauft hat, von denen er wusste, dass sie gestohlen waren, oder etwas in der Art. Seither ist er dem Vernehmen nach sauber. Scheint gerne mal einen Exknacki um sich zu haben, der für ihn arbeitet.«
»Erinnert ihn an bessere Zeiten.«
»Vielleicht.«
Helen klappte ihr Feuerzeug zu. »Was machen wir jetzt mit Roberts?«
»Wir überprüfen seine Unterkunft, seine Adresse.«
»Glaubst du, er ist noch da?«
»Ich weiß nicht«, sagte Will. »Erwarten wir nicht zu viel.«
Die Wirtin war groß und dünn wie eine Bohnenstange; ihr ergrautes Haar war zurückgekämmt und festgesteckt. »Mitchell, der ist in der Tat weitergezogen. Schon vor ein paar Tagen. Sehr schade. Nicht ein Deut Ärger mit ihm wie mit anderen, die dieses und jenes in ihre Zimmer schmuggeln. Keine Manieren haben. Es gibt Leute …«, dies mit einem prüfenden Blick auf Helen, »… die nichts mehr davon halten, wenn Männer Damen die Tür aufhalten und dergleichen. Aber in meinen Augen zeigt es Respekt.«
»Er hat doch sicher eine Adresse hinterlassen«, sagte Helen mit unbeweglicher Miene.
»Sie liegt irgendwo.«
Mitten in einem Durcheinander von Reklamezetteln für Pizzas zum Bestellen und Tandoori-Angeboten fand sich ein in der Mitte gefaltetes Stück rosa Karton mit der Werbung für Blumengrüße und Sträuße, speziell auch für Beerdigungen. Auf der Rückseite war eine Adresse notiert: Bellamy Street 47.
Will erwartete sich nicht allzu viel davon, und als sie ankamen, erwies sich das als richtig. Die Bellamy Street war eine Sackgasse, Nummer 47 das vorletzte Haus. Davor stand ein großer Container, gefüllt mit alten Brettern, Bruchstücken von Leisten, Putz und Ziegelsteinen. Im Vorgarten stand neben Säcken mit Sand und Zement ein Miet-WC. Oben auf dem Gerüst entfernte ein Arbeiter die Regenrinnen unter dem Dach. Die leeren Fenster waren verhängt, die Haustür war ein Stück Sperrholz, das Haus war kaum mehr als eine leere Hülle.
Mitchell Roberts hatte niemand gesehen.
Sie erwischten Nina George, Roberts’ Bewährungshelferin, als sie gerade ging. Sie hatte ein Tuch locker um den Hals geschlungen und stopfte Akten in den Kofferraum ihres Nissan Micra. »Ja«, antwortete sie auf Wills Nachfrage. »Seine sechs Monate waren um. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Hat jeden Termin eingehalten. Ich glaube, er ist auch nie zu spät gekommen oder höchstens ein paar Minuten. Offenbar hat er sich bei der Arbeit genauso verhalten. Pünktlich, zuverlässig. Seit Arbeitgeber schwört auf ihn.«
»Sie wissen, dass er gekündigt hat?«, sagte Will. »Dass er die Arbeit hingeschmissen hat?«
»In der Werkstatt? Bei Lansdale? Nein, nein, das wusste ich nicht.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Ich muss schon sagen, das erstaunt mich.«
»Da er aus seiner Unterkunft ausgezogen ist, wissen Sie sicher, wo er jetzt wohnt?«
»Oh ja. Natürlich. Irgendwo im Osten der Stadt. Richtung Flughafen. Ich habe die Adresse in meinen Unterlagen.«
»Bellamy Street?«
»Genau, das ist es.«
»Haben Sie es überprüft?«
»Nein, nicht direkt. Zumindest noch nicht. Warum?«
»Wir kommen gerade von dort. Nummer 47. Das gesamte Gebäude ist mehr oder weniger entkernt. So viele polnische Arbeiter, dass sie eine eigene Fußballmannschaft gründen könnten. Und von Mitchell hat keiner in der Straße je etwas gehört. Er hat sich aus dem Staub gemacht und ist verschwunden.«
»Ich bin sicher, es gibt eine Erklärung …«
»Ja«, sagte Will. »Da bin ich auch ganz sicher.«
Sie ließen sie stehen. Verwirrt und nachdenklich knöpfte sie ihren neuen Wollblazer zu und wieder auf.
40
Beatrice hatte sie zermürbt, bis sie kurz davor war zu kapitulieren.
»Aber warum, Mum? Sag mir bloß, warum?« »Warum nicht?« »Aber warum denn nicht? Ich hab doch schon mal bei ihr geschlafen. Sogar zweimal, und sie war auch schon hier.« »Also bitte, nenn mir einen guten Grund. Nur einen. Siehst du, du weißt keinen!« Und schließlich: »Das ist doch blöd! Es ist einfach unfair.« Gefolgt
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