Schrei Aus Der Ferne
Stunde.«
»Hör zu, tut mir leid, aber die Situation hier ist schwierig …«
»Was für eine Situation?«
»Der Kleinen, Annie, geht’s nicht gut, sie hat Bauchweh. Ich muss vielleicht mit ihr zur Notaufnahme, wenn’s nicht besser wird.«
»Kann deine Frau nicht …?« Helen mochte ihren Namen nicht aussprechen.
»Sie ist weg. Irgendeine Feier mit Kollegen. Sie wollte längst wieder hier sein, die blöde Kuh.«
»Declan …«
»Pass auf, bleib noch ein bisschen da, ja? Ich ruf dich an, wenn ich hier weg kann.«
Das war nichts für Helen. Sie ließ das Telefon in ihre Handtasche gleiten und warf einen letzten Blick auf das riesige, fast leere Lokal.
»Betrachte es von der positiven Seite«, hatte eine ihrer Freundinnen gesagt, »wenigstens musst du nicht seine Unterhosen waschen.«
Es gab Schlimmeres.
Vor zwei Tagen war er abends bei ihr in der Wohnung gewesen, hatte schon Scotch und Wodka und Gott weiß was alles getrunken, als sie ihm nach einer Menge Herumspielen ins Gesicht geschlagen hatte, nicht einmal, sondern zweimal. Er hatte gelacht und zurückgeboxt – nicht ins Gesicht, sondern auf den Körper, wo die blauen Flecken nicht sichtbarwaren. Sie hatte ihn ein drittes Mal geschlagen und ihre eigene Stimme rufen hören: »Komm schon, fick mich! Fick mich, du Scheißkerl!« Als sie sich jetzt daran erinnerte, hasste sie sich selbst fast genauso, wie sie ihn hasste.
Es war längst überfällig, damit Schluss zu machen.
Zu Hause goss sie sich ein großes Glas Rotwein ein und setzte sich hin, um ›Die Hochzeit meines besten Freundes‹ zu sehen; die DVD hatte sie im Supermarkt für weniger als einen Fünfer erstanden. Dermot Mulroney war Declan nicht unähnlich, wenn man dessen überzählige zehn Kilo abzog.
Es war fast eins, als ihr Telefon schließlich läutete. Helen hatte ihr zweites Glas Cabernet schon fast geleert und dachte daran, ins Bett zu gehen.
»Declan«, sagte sie, bevor er sprechen konnte.
»Ja?«
»Es ist aus.«
»Ein Scheiß ist es!«
Sie schaltete ihr Telefon aus, füllte ihr Glas auf, sah sich das vorhersehbare Ende des Films an und bereitete sich aufs Schlafengehen vor. Declan würde es nicht mögen, den Laufpass zu bekommen, da war sie sich sicher. Er würde versuchen zu telefonieren, sie bei der Arbeit abzufangen, böse zu sein, nett zu sein, er würde alles tun, um sie umzustimmen. Aber solange sie fest blieb, würde er es bald satt haben, einen Aufstand oder vielmehr sich selbst zum Narren zu machen, denn so würde er in den Augen der anderen dastehen. Dann würde er verbreiten, dass er sie abserviert hatte, schließlich sei sie nur eine kleine Schlampe. Bald würde er sich eine andere suchen.
Um kurz nach zwei und immer noch wach stand Helen auf und nahm zwei Paracetamol, versuchte zu lesen und schlief schließlich gegen Viertel vor drei ein. Um fünf Uhr hatte sie immer noch einen dicken Kopf und war wieder hellwach.
»Du siehst scheiße aus«, sagte Will fröhlich ein paar Stunden später, als er auf dem Weg zu seinem Schreibtisch bei Helen stehen blieb.
»Herzlichen Dank.«
»Heiße Nacht?«
»Wenn’s so war, hab ich nichts davon mitgekriegt. Und überhaupt, was macht dich so fröhlich?«
»Ach, weißt du …«
Helen glaubte den Grund zu kennen. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete und sie ging ran.
»Bist du da?«, fragte sie Will, die Hand über die Sprechmuschel gelegt.
»Hängt davon ab. Wer ist dran?«
»Janine Clarke.«
37
Oberflächlich betrachtet sah Janine Clarke genauso aus wie an dem Tag, an dem Will sie in Huntingdon getroffen hatte: dasselbe schwarze Kostüm oder ein ganz ähnliches, dieselbe Silberbrosche – ein Geschenk von ihrem Mann, schätzte er, zum Hochzeitstag oder Geburtstag. Ihr Haar war ordentlich geschnitten und saß gut, das Make-up wirkte unauffällig, aber gekonnt. Das Lächeln, mit dem sie auf ihn zukam, um ihm die Hand zu schütteln, war das gleiche sichere professionelle Lächeln wie zuvor. Nur die Augen waren nervös, flackernd und dunkel. Sie hatten Angst, was auf sie zukam, was sie sehen würden.
Ihre Hand war wärmer als beim letzten Mal, fast feucht, und Will spürte ein ganz leichtes Zittern, als sie ihren Handschlag löste.
»Janine. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind. Das ist meine Kollegin Helen Walker. Helen – Janine.«
Janine schenkte Helen ein kurzes zugeknöpftes Lächeln.
»Wollen wir in mein Büro gehen?«, sagte Will. »Dort ist die Chance größer, dass wir
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