Schrei Aus Der Ferne
von dem üblichen Ritual: Sie rauschte mit zusammengepressten Lippen und wildem Blick aus dem Zimmer und knallte mit den Türen, um dann oben herumzustampfen.
»Ich meine ja«, hatte Andrew vorsichtig geäußert und von seiner Zeitung aufgeblickt, »dass sie vielleicht recht hat.«
»Du glaubst also, dass ich übertreibe?«
»Nun, vielleicht ein wenig. Schließlich stimmt es, dass wir ihr schon mal erlaubt haben, dort zu übernachten. Bei Sasha, richtig? Es ist nur ein paar Straßen weiter, nicht gerade das Ende der Welt.«
»Darum geht’s doch gar nicht, Andrew.«
Er faltete die Zeitung zusammen. »Worum denn dann?«
»Ich weiß nicht, es ist nur …«
»Es ist wegen dieser Fotos, habe ich recht? Sie sind dir an die Nieren gegangen. Diese verdammte E-Mail .«
»Ja, ich glaube, das ist es.«
»Aber es sind keine mehr gekommen?«
»Nein, das hätte ich gesagt.«
»Und auch sonst keine besonderen Vorkommnisse, irgendetwas Ungewöhnliches?«
»Nein.«
»Niemand, der sich in der Nähe rumgetrieben hat?«
Ruth schüttelte den Kopf.
»Wann soll das Ganze denn stattfinden?«, fragte Andrew.
»Diesen Freitag.«
»Am Freitag habe ich doch die Sitzung. Dieses verdammte Steuerungskomitee. Ich wünschte, ich hätte mich nie dazu bereit erklärt. Aber ich könnte sie ganz einfach auf dem Weg dorthin bei Sasha absetzen und sie am Samstag wieder abholen, nicht zu früh. Vielleicht erklären sie sich auch bereit, sie bei uns vorbeizubringen.« Er lächelte. »Würde uns beiden guttun, mal richtig auszuschlafen.«
»Ich weiß nicht.«
Er stand von seinem Sessel auf und küsste sie sanft auf die Stirn. »Ich weiß, was in dir vorgeht. Mir ist klar, dass du manchmal denkst, ich würde dich nicht verstehen, aber das stimmt nicht. Wirklich nicht. Trotzdem darfst du sie nicht zu sehr einengen. Du musst ihr erlauben, langsam ihr eigenes Leben zu leben, auf ihre eigene Weise groß zu werden.« Er trat einen Schritt zurück, drückte ihre Hände und lächelte sein beruhigendes Lächeln. »Es passiert kein zweites Mal.«
Ruth sah aus dem Fenster im ersten Stock auf den Regen, der sich vor dem gelben Licht der Straßenlaterne in langen schrägen Streifen abzeichnete und sich in kleinen Pfützen am Randstein sammelte. Sie hatte keinen richtigen Hunger gehabt und sich etwas früher ein Sandwich gemacht, das sie mit einem Glas Wein am Tisch gegessen hatte. Es war noch nicht einmal halb zehn, und sie hatte bereits dreimal bei Sasha angerufen und gefragt, ob alles in Ordnung sei. Jeder Anruf war überflüssiger und lästiger gewesen als der vorherige.
»Ruth«, hatte Sashas Mutter schließlich gefragt, »ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja, ja. Mir geht es gut. Es tut mir leid, ich bin einfach unvernünftig. Ich verspreche aber, dass ich jetzt nicht mehr anrufe.«
Sie hatte zehn Minuten lang ein schwachsinniges Fernsehprogramm gesehen, dann ausgeschaltet und den neuen Roman von Marilynne Robinson in die Hand genommen.
Nach einer halben Stunde ging sie nach oben, wollte es ausnutzen, dass sie allein war, und früh zu Bett gehen. Aber als sie sich im Badezimmer fertig machte, kamen ihr Bedenken: War es nicht besser aufzubleiben, bis Andrew kam? Bestimmt erwartete er das.
Sie stand am Schlafzimmerfenster und spähte durch den Vorhang, als sie das Geräusch hörte.
Das Geräusch eines einzelnen Schritts im Stockwerk über ihr. Und dann, als sie die Ohren spitzte, ein Schnappen und ein kleines Echo wie von einer Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Ihre Haut wurde eisig.
Kalt lief es ihr über Arme und Beine.
Sie wartete und strengte sich an, etwas zu hören. Da. Aber nein, das war nichts, jemand ging draußen auf der Straße vorbei. Sie spürte, wie ihr Puls leise an ihre Haut schlug. Sie drehte sich zur Schlafzimmertür um, die ein Stück offen stand. Dahinter war der Treppenabsatz. Ein schwacher Einfall von Licht, der zu Schatten wurde.
Das Telefon stand auf der anderen Seite des Raumes, neben dem Bett, aber wen sollte sie anrufen? Und mit welcher Begründung?
Da war nichts. Beatrice hatte ihr Fenster offen stehen lassen; eine Tür war im Wind zugefallen.
Die Straße war jetzt leer und verlassen, nur ein Fuchs trottete fast anmutig daher, lief gegenüber mit glänzendem, vom Regen dunklen Fell an der Mauer entlang.
Sie war auf dem Treppenabsatz, als sie einen weiteren Laut hörte. Ein Klopfen. Da: schon wieder. Es ist der Wind, dachte sie, genau das ist es, in einer Nacht wie dieser kann es nur
Weitere Kostenlose Bücher