Schrei Aus Der Ferne
die Nachbarn, ob sie vielleicht etwas gesehen hatten. Um die fragliche Zeit waren viele Leute von der Arbeit zurückgekommen, es hatte viel Durchgangsverkehr gegeben, jede Menge Autos. Sowohl der Musiklehrer als auch BeatricesFreundin und deren Mutter waren vorläufig befragt worden.
Es gab zwei Möglichkeiten, dachte Will: Entweder hatte das Mädchen keine Lust mehr gehabt, auf den Vater zu warten, der zugegeben hatte, sich um fast fünfzehn Minuten verspätet zu haben, und war allein losgegangen. Oder sie hatte sich von jemandem mitnehmen lassen. Das eine schloss das andere nicht aus.
Besondere Aufmerksamkeit wurde der Route geschenkt, die sie höchstwahrscheinlich genommen hatte, wenn sie allein nach Hause gegangen war. Eine Strecke, für die man zwischen zwanzig Minuten und einer halben Stunde brauchte, wenn man nicht trödelte. Durchweg belebte Straßen, besonders zu dieser abendlichen Stunde, keine Durchgänge oder Abkürzungen, nur ein einzige kurze Strecke über offenes Gelände. Natürlich hätte sie auch am anderen Ende der Straße den Bus ins Zentrum nehmen können, und dann einen weiteren Bus von dort, der nur ein paar hundert Meter von ihrem Haus entfernt hielt.
Prüfen, überprüfen und nochmals überprüfen.
Andrew Lawson saß mit dem Gesicht in den Händen da und versuchte, nicht auf seine Armbanduhr oder auf die Wanduhr zu sehen. Die Beamtin, die zur Betreuung der Familie eingesetzt worden war, Anita Chandra, machte ihm eine Tasse Tee nach der anderen, die er alle zur Seite stellte, ohne sie zu trinken.
Gleich nachdem er mit dem Vater gesprochen hatte, hatte sich Will an der sorgfältigen Durchsuchung des Hauses beteiligt: Zimmer um Zimmer, die Schränke, die Garage, der Gartenschuppen.
Einfach alles …
Beatrices Zimmer war im zweiten Stock, und Will hatte einige Minuten lang allein dagestanden und langsam alles aufsich wirken lassen: die Fotos, die wahllos aufgehängt worden waren – Beatrice mit Reitkappe, im Badeanzug am Strand, mit Freunden bei einer Party – und die Plakate an den Wänden. Strumpfhosen und Leggings hingen in wirrem Durcheinander über dem Kopfende des Bettes, Kleidungsstücke lagen überall am Boden verstreut. Bücher und Comics, Zeitschriften. Mehrere Paar Turnschuhe, zwei Paar Crocs, gelb und grün, rosa Gummistiefel. Schmuck, bunt und billig, baumelte an drei bunten Bändern. Ihr Schreibtisch war mit Heften und Heftern bedeckt, Stifte und Bleistifte standen dicht gedrängt in einem Tontopf; zwei Wörterbücher, eins Englisch, eins Französisch; ein hellblaues Tagebuch mit gepolstertem Umschlag und einem Schloss, das bei der Berührung aufsprang. Keine Einträge in den letzten paar Tagen. Der Rest würde sorgfältig durchgelesen und jeder Name, jeder Hinweis überprüft werden.
Neben dem Bett stand ein kleiner Radiowecker; kein Computer, kein Fernseher.
Sie könnte sich auch mit jemandem verabredet haben, dachte Will. Das war die dritte Möglichkeit.
Es gab so viel, das sie noch nicht wussten.
Helen war früher am Abend zu dem Haus des Musiklehrers hinausgefahren, einer zweistöckigen Doppelhaushälfte aus den Dreißigerjahren mit einem breiten Erkerfenster im Parterre und Glyzinien, die zu beiden Seiten der Haustür nach oben rankten und sich bis zur entferntesten Ecke des Dachs verzweigten. Die Diele hatte Parkettfußboden, überall gab es kunstvoll arrangierten Schnickschnack, und im Wohnzimmer stand eine dreiteilige Polstergarnitur, die gute Dienste geleistet hatte und noch aus der Zeit stammte, als die Dinge gemacht wurden, um zu überdauern.
Leslie Huckerby – nervöse Augen, Glatze, Brille, offenegraue Strickjacke – schüttelte Helen die Hand und zeigte auf einen der Sessel. »Bitte. Bitte, setzen Sie sich.«
Seine Frau Marion, weich und rund, fragte Helen, ob sie gern Tee wollte. »Oder Kaffee, wenn es Ihnen lieber ist. Wir trinken Kaffee nur am Morgen, aber wenn Sie welchen wollen, macht das keine Mühe. Ich habe auch Ovomaltine. Leslie und ich …« Sie hörte auf zu sprechen. »Entschuldigung, ich …«
»Ovomaltine«, sagte Helen schnell. »Das wäre sehr nett. Vielen Dank.«
»Es hat sie sehr mitgenommen«, sagte Huckerby, als seine Frau den Raum verlassen hatte. »Uns beide natürlich. Zu denken, dass sie dieses Haus verlassen hat und …« Er senkte den Blick. »Man hört von so vielen schrecklichen Dingen, die passieren. Jedes Mal, wenn man die Zeitung aufschlägt oder den Fernseher anstellt. Die Nachrichten
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