Schrei Aus Der Ferne
die er kennengelernt hatte, als sie erst sechzehn war, und die er bis zu ihrem Tod fast fünfzig Jahre später wie ein Besessener gemalt hatte. Es würde Vorträge von Experten geben, Diapositive, Analysen, die Gelegenheit, sich in den Ausstellungsräumen umzusehen, und hoffentlich reichlich Zeit für Diskussionen.
Sie gab der immer noch schläfrigen Beatrice einen Kuss zum Abschied und erinnerte sie an den Flötenunterricht am späten Nachmittag.
»Mum, ich weiß.«
»Und Daddy holt dich danach ab, okay?«
»Mum!«
Ruth drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und ging dann schnell.
»Du wirst noch deinen Zug verpassen«, rief Andrew von unten.
»Nein, bestimmt nicht.« Die Tasche schon über der Schulter blieb sie einen Moment stehen und überlegte, ob sie etwas vergessen hatte, dann flitzte sie nach unten.
»Viel Spaß«, sagte Andrew und zielte einen Kuss auf ihre Wange. »Wann bist du wieder hier?«
»Nicht spät. Solange der Zug pünktlich ist. Vermutlich kurz nach dir.«
»In Ordnung. Gut. Ich fang dann schon mit dem Kochen an.«
»Und du vergisst nicht, Beatrice abzuholen?«
»Nein. Jetzt geh um Himmels willen.«
Ein Lächeln, ein Winken und sie war aus der Tür.
»Bea«, rief Andrew die Treppe hinauf, »wird Zeit, dass du aufstehst.«
Der Tag wurde Ruths Erwartungen fast vollkommen gerecht. Die Vortragenden waren beide gut, stimmten ihre Ausführungen auf das richtige Niveau ab und vermieden die schlimmsten Exzesse der kritischen Theorie. Die Art, in der die Beziehung zwischen dem Werk der beiden Künstler untersucht wurde, war vorbildlich.
Im Ganzen hatte es sich gelohnt, meinte sie, als sie sich auf ihrem Platz im Zug entspannte. Sogar außerordentlich gelohnt. Als sie in den Speisewagen ging, wo sie eigentlich eine Tasse Kaffee trinken wollte, krönte sie den gelungenen Tag und bestellte sich ein Glas Wein.
Gut gelaunt kam sie zu Hause an und war überrascht, Andrews Wagen nicht vorzufinden. Vielleicht hatte der Flötenunterricht länger gedauert. Das kam manchmal vor.
Sie schloss die Haustür auf, ließ ihre Tasche fallen und ging nach oben, weil sie die Kleider ausziehen wollte, die sie den ganzen Tag getragen hatte.
Gerade zog sie sich einen frischen Pullover über, als sie den Wagen in die Auffahrt einbiegen und dann Andrews Schlüssel im Schloss hörte.
»Hallo!«, rief sie nach unten. »Ich bin wieder da.«
Sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde.
»Ich komme gleich.«
Andrew stand käseweiß am Fuß der Treppe. »Beatrice. Ist sie hier?«
»Nein, natürlich nicht. Sie sollte doch mit dir kommen.«
»Ich war da, um sie abzuholen, aber sie war schon weg. Ich habe natürlich gedacht, dass sie allein nach Hause gegangen ist.« Seine Stimme war rau, er sprach atemlos. »Als ich hier ankam, war sie nicht da. Deshalb bin ich noch einmal beim Musiklehrer vorbeigefahren.«
»Fiona«, sagte Ruth. »Sie ist bestimmt zu Fiona gegangen.«
»Da hab ich schon angerufen. Dort ist sie nicht.«
Er sah hilflos zu ihr hinauf: ein Blick, den Ruth kannte. Sie hielt sich am Treppengeländer fest, damit sie nicht fiel. Es konnte nicht … es konnte nicht noch einmal passieren.
TEIL VIER
44
Will hatte noch nicht mit der Mutter sprechen können. Ruth Lawson war oben und schlief; sie hatte ein Beruhigungsmittel bekommen; eine Freundin – Catriona – saß bei ihr, falls sie aufwachte. Kein guter Moment, um allein aufzuwachen.
Als er ins Haus gekommen war, war Ruth außer sich vor Verzweiflung gewesen, unfähig, länger als ein paar Sekunden sitzen zu bleiben; mit kalkweißem Gesicht und unter Tränen hatte sie wütend mit den Armen um sich geschlagen, mehrere Male hatte sie sich übergeben müssen. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte ihr Mann, Andrew, sie davon abhalten müssen, sich Haarbüschel auszureißen und sich selbst mit den Fäusten ins Gesicht zu schlagen. Als Will versuchte, mit ihr zu sprechen, hatte sie ihn angeschrien. Sie hatte nur geschrien und geweint.
Jetzt war es kurz vor elf: vier Stunden seit der Alarmierung der Polizei, fünf, seit Beatrice Lawson das letzte Mal gesehen worden war.
Ihre Flötenstunde war wie üblich kurz vor sechs zu Ende gewesen. Sie hatte ihre Flöte in den Kasten gelegt, ihren Mantel angezogen, ihre blaue Schultasche genommen und war hinausgegangen, um auf ihren Vater zu warten.
So viel war bekannt.
Zahlreiche Polizisten befanden sich in der Nähe des Hauses, in dem der Musiklehrer lebte. Sie klopften an Türen und fragten
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