Schrei Aus Der Ferne
heutzutage, ich sage Ihnen, an manchen Abenden können Marion und ich gar nicht hinsehen.« Er lächelte zaghaft. »Tut mir leid, ich schwatze. Dafür sind Sie nicht gekommen.«
»Ist in Ordnung«, sagte Helen. »Ich verstehe das.«
»Fragen Sie mich, was Sie wissen müssen.«
Mit offenem Notizbuch überprüfte Helen, wann die Stunde begonnen und geendet hatte und wie Beatrice normalerweise zum Unterricht gebracht und wieder abgeholt wurde.
»Und heute? Haben Sie irgendetwas an Beatrice bemerkt, das anders war als sonst?«
»Meinen Sie, wie sie angezogen war oder …«
»Nein, nein. Ihr Verhalten. War sie eventuell aufgeregt?«
»Ich glaube nicht, nein.«
»Abgelenkt?«
»Nicht mehr als sonst. Beatrice hat ein gewisses natürliches Talent. Ein gutes Ohr. Aber ihr Konzentrationsvermögen lässt zu wünschen übrig, muss ich sagen. Und wennihr etwas nicht schnell gelingt, lässt sie sich sehr leicht entmutigen.«
»Aber sie kommt weiterhin zum Unterricht.«
»Den Eltern liegt sehr viel daran, besonders der Mutter. Ich denke, Beatrice hat gar keine andere Wahl.« Er veränderte seine Position auf dem Sofa. »Ich bezweifle, dass sie noch lange weitermacht, wenn sie erst mal elf oder zwölf ist.«
»Gab es heute im Unterricht vielleicht etwas besonders Schwieriges, das ihr gegen den Strich gegangen ist? Das sie geärgert oder wütend gemacht hat?«
»Nein, überhaupt nichts.«
»Sie ist nicht hinausgestürmt?«
»Nein. Ganz im Gegenteil. Gegen Ende der Stunde hat sie ein kleines Stück recht gut gespielt, und dafür konnte ich sie loben. Sie hat sich gefreut, glaube ich. Sie hat sogar meine übliche Ermahnung, nur kurz, aber dafür oft zu üben, über sich ergehen lassen, ohne mit den Augen zu rollen, wie sie es oft tut. ›Auf Wiedersehen, Mr Huckerby. Bis nächste Woche.‹ Und dann war sie weg.«
Plötzlich blinzelte er hinter seiner Brille, um die Tränen zurückzuhalten.
Marion Huckerby kam mit einem Tablett herein. »Es gibt keine große Auswahl an Keksen, fürchte ich. Nur ein paar Shortbreads.«
Helen hatte den Geruch von Ovomaltine vergessen – malzig, konnte man so sagen? Er erinnerte sie an Abende zu Hause, wenn sie sich zum Schlafengehen fertig gemacht hatte und im Schlafanzug wieder nach unten gekommen war, damals, als sie zwölf oder dreizehn gewesen war.
Ein anderes Leben.
»Würden Sie sagen, Beatrice war jung für ihr Alter?«, meinte Helen.
»Nein«, sagte Leslie Huckerby. »Das glaube ich nicht.«
»Also war sie reif? Erwachsen?«
»Ich weiß nicht, schwer zu sagen. Seit ich nicht mehr ganztags unterrichte, jeden Tag in die Schule gehe … scheinen sie alle so schnell groß zu werden. Nicht dass ich den Eindruck hatte, sie würde sich besonders für Make-up oder Jungen interessieren wie so viele andere.« Er schüttelte den Kopf. »Ein ganz normales, fröhliches Mädchen. Außerdem blitzgescheit.«
»Sie wissen nicht, was passiert sein könnte?«, fragte Marion Huckerby.
»Nachdem sie hier weggegangen ist?«, sagte Helen. »Noch nicht.«
»Sie taucht bestimmt wieder auf.«
»Das wollen wir hoffen.«
»›Bye, Mrs Huckerby‹, hat sie gesagt, ganz fröhlich.«
»Sie haben sie gehen sehen?«
»Ja. Ich saß hier, auf diesem Sessel, wo ich jetzt auch sitze. Sie hat ihren Kopf durch die Tür gesteckt, um sich zu verabschieden.«
»Und war das normal? Ich meine, hat sie das immer getan?«
»Oh ja. Wenn die Tür offen stand und sie mich hier sitzen sah. Manchmal, wenn ihr Vater kam, bevor die Stunde zu Ende war, gingen sie schnell weg, aber normalerweise sagte sie auf Wiedersehen, dann ging sie raus und wartete draußen auf ihn.«
»Sie hat nie hier oder in der Diele auf ihn gewartet?«
»Normalerweise nicht, nein. Vielleicht, wenn es regnete, aber nein, auch das nicht, sie wartete draußen. Es hat ja nie länger als ein paar Minuten gedauert.«
»Bis ihr Vater kam?«
»Ja. Manchmal habe ich seine Stimme gehört, gelegentlich auch den Wagen, aber nicht immer.«
»Um diese Zeit am Abend ist so viel Verkehr«, sagte Leslie Huckerby. »Die Fenster in dem Raum, wo ich meinen Unterricht gebe, haben Schallschutzscheiben. Das musste ich machen lassen, weil man sonst nichts als Autos hören würde.«
»Dann konnten Sie also gar nichts hören?«
»So gut wie nichts.«
»Nur, wenn Sie nach unten gekommen wären.«
»Ja, aber das mache ich nicht, wissen Sie. Vielleicht gehe ich mal schnell auf die Toilette, aber im Prinzip bereite ich mich auf die nächste Stunde vor.
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