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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Januar dieses Jahres nicht angerührt hatte. Soweit ihr Vater wusste, fehlte keines ihrer Kleidungsstücke außer den Sachen, die sie getragenhatte. Bislang gab es nichts, das vermuten ließ, das Mädchen hätte geplant, aus eigenem Antrieb fortzugehen. Kein Hinweis darauf, dass sie entweder zu Hause oder in der Schule unglücklich gewesen wäre.
    Er sah hinunter in den Garten hinter dem Haus. Das Licht von Helens Zigarette leuchtete über dem dunklen Gras wie ein Glühwürmchen. Die meisten Fenster in der Umgebung waren dunkel.
    Will ging nach unten.
    »Du solltest nach Hause gehen und dich ausruhen«, sagte Helen, als sie ihn sah. »Ein paar Stunden Schlaf, solange du die Möglichkeit dazu hast.«
    »Vielleicht«, sagte Will.
    Am Vormittag würden Plakate mit Beatrices Bild fertig sein, die sie verteilen konnten; verschiedene Personengruppen würden noch einmal befragt werden: die Nachbarn, die Fahrer der in Frage kommenden Busse, Beatrices Lehrer und Mitschüler; wenn nicht Helen diese Aufgabe übernahm, würde Will persönlich mit Beatrices Freundin Fiona Davies und ihrer Mutter sprechen, die beide erst vorläufig befragt worden waren. Vielleicht hatten sie Glück und auch Ruth Lawson war ansprechbar.
    Es war geplant, die Autofahrer, die auf dem Heimweg regelmäßig am Haus der Huckerbys vorbeikamen, am Abend anzuhalten und ihnen ebenfalls Fragen zu stellen. Sollte es bis zum Ende des Tages keine Spur geben, würde ein kombiniertes Fingerabdruck-DN A-Profil von Beatrice angefertigt werden. Dann würden weitere Beamte hinzugezogen werden. Das war die übliche Vorgehensweise.
    »Sie ist verschwunden«, sagte Will. »Zehn, fünfzehn Minuten, und sie ist einfach verschwunden.«
    Helen drückte ihre Zigarette aus. »Nach Hause«, sagte sie. »Geh nach Hause.«
    »Und du?«
    Keiner von beiden bewegte sich.
    Anita Chandra, die zur Betreuung der Familie abgestellte Beamtin, kam leise aus dem Haus.
    »Diese Freundin der Mutter, Sir, Catriona, haben Sie schon mit ihr gesprochen?«
    »Nein, warum?
    »Ich denke, Sie sollten es tun.«

45
     
    Ruth schwamm. Sie schwamm unaufhaltsam vom Ufer weg, machte lange, langsame Züge, die sie gegen die Strömung durch das Wasser schoben. Die Beine stießen kräftig im Takt mit den Armen, ihr Kopf drehte sich, ihr Körper rollte von einer Seite zur anderen, das Wasser spritzte ihr ins Gesicht und auf den Rücken.
    Sie drehte sich um, trat Wasser und sah zurück.
    Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie so weit hinausgeschwommen war.
    Menschen liefen wie Strichmännchen am Strand entlang.
    Einige winkten. Winkten sie ihr zu?
    Sie hob einen Arm und winkte zurück, und als sie das tat, stieg das Wasser in ihr Gesicht, brannte in ihren Augen, drang in ihren Mund und ihre Nase. In ihrem Mund waren Salz und ein saurer Geschmack.
    Einen Augenblick lang würgte sie, sie konnte nicht atmen.
    Dann drehte sie sich langsam wieder um und begann von Neuem, gemächlicher jetzt, ein stetiges Brustschwimmen, kein Kraulen mehr. Jetzt teilten ihre Hände die Wellen wie kleine grüne Vorhänge.
    Grün wie Glas.
    Grün und blau und wieder grün.
    Das Meer.
    Sie hatte das Meer für sich allein.
    Der Horizont war eine dunkle Linie, die zitterte wie eine Note auf der Geige.
    Sie schwamm gleichmäßig weiter, aber ihre Beine begannen zu schmerzen, ihre Arme wurden schwer.
    Wie weit musste sie noch schwimmen?
    Noch zwanzig Züge, noch zehn, dann würde sie sich wieder ausruhen, wieder Wasser treten, auf dem Rücken liegen und sich von den Wellen mitnehmen und tragen lassen.
    Da.
    Das Wasser stieg über ihr Gesicht und sie spürte, wie sie unter die Wellen glitt.
    Das war es, was sie die ganze Zeit gewollt hatte.
    Genau das.
    Sie schloss die Augen.
    Nach unten.
    Weiter nach unten.
    Jetzt spürte sie den Druck auf ihrer Brust und in ihren Lungen, und plötzlich musste sie kämpfen, um zu atmen, sie musste mit den Armen um sich schlagen, musste sich anstrengen, um wieder an die Oberfläche zu kommen, aber das Gewicht des Wassers drückte sie nach unten.
    Je heftiger sie kämpfte, desto stärker wurde sie durch irgendetwas gehemmt, als würden Hände sie unter die Wellen drücken und unten halten.
    Hände.
    Kinderhände.
    Und ihr Lachen.
    Das Wasser rauschte in ihren Ohren, bis sie glaubte, sie würden bersten.
    Keine Luft   …
    Ihre Lungen   …
    Irgendwo über ihr schien die Sonne in die Gesichter der Kinder, sie lachten, planschten und strampelten und spielten ihre kleinen Spiele.
    Sie riefen ihren

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