Schrei in der Nacht
ein
Uhr hier wieder treffen.«
Murphys Gesicht zeigte deutlich sein Erstaunen, als er
fragte: »Aber was wollen Sie bis dahin machen, Mr. Fallon? Auf
den Straßen sind Sie nicht sicher.« Fallon entgegnete
schmunzelnd: »Ich werde einen alten Freund besuchen.« Dann
wurde sein Gesicht wieder hart; er trat dicht an den Jungen heran und
fuhr fort: »Versuch nicht, mir zu folgen. Dies ist jemand, von
dem ich nicht möchte, daß er mit der Organisation in
Berührung kommt. Verstanden?« Vom Gesicht des Jungen
verschwand augenblicklich das Lächeln; ernüchtert entgegnete
er: »Ich verstehe alles, Mr. Fallon. Also dann um eins. Ich werde
pünktlich sein.« Damit drehte er sich um und stürzte im
Regen davon, die Straße hinauf.
Einige Minuten lang blieb Fallon im Torweg stehen und
beobachtete den Jungen, bis dieser außer Sicht war; dann schlug
er wieder seinen Kragen hoch und wagte sich selbst hinaus in den Regen.
Zunächst wandte er sich in eine
Seitenstraße, die ihn von der Stadtmitte wegführte. Dann bog
er einige Male kreuz und quer in andere Seitenstraßen ein, bis er
völlig sicher war, daß ihm niemand mehr folgte.
Schließlich kam er an einen ruhig gelegenen Platz, der an jeder
Seite von Reihen hoher schmaler Häuser aus der Zeit des
Königs Georg umgeben war. Auf eine Ecke des Platzes zu lief eine
Mauer, in die ein altes, schweres Holztor eingelassen war. An diesen
Planken rann in langen Streifen grüne Farbe herab. Fallon
öffnete das Tor und trat hindurch.
Er befand sich nun in einem kleinen, ummauerten
Garten, der nichts als eine Wildnis von wucherndem Gras und Unkraut
darstellte. Vor ihm ragte die braune Masse eines alten Hauses in den
regnerischen, bleiernen Himmel empor. Verwirrt und bestürzt
betrachtete Fallon diese trostlose Szenerie; dann ging er langsam den
Weg hinauf bis zu der Tür und zog an dem altertümlichen
Klingelzug.
Der Ton schnarrte schwach in den verborgenen Tiefen
des Hauses, und sein Nachhall klang wie aus einer anderen Welt. Dann
war alles wieder still. Nach einigen Minuten versuchte es Fallon noch
einmal. Es dauerte wieder eine Weile, bis er Schritte hörte, die
sich der Tür näherten. Riegel wurden zurückgezogen, und
dann ging die Tür einen Spalt weit auf.
Ein junges Mädchen in einem alten wollenen
Morgenmantel und mit schläfrigen Augen schaute heraus und fragte:
»Was gibt es?«
»Ist Professor Murray zu sprechen?« fragte
Fallon. Auf ihrem Gesicht erschien daraufhin ein seltsamer Ausdruck,
und er beeilte sich, seinen Wunsch zu erklären. »Ich
weiß, es ist noch sehr früh, aber ich bin auf der Durchreise
und hatte versprochen, ihn zu besuchen. Ich habe früher bei ihm
studiert.«
Einen Augenblick lang hielt das Mädchen die Augen
starr auf ihn gerichtet; dann trat sie zurück, öffnete die
Tür weit und forderte ihn auf: »Kommen Sie herein!«
Als sich die Tür hinter ihm schloß, lag die Eingangshalle vor
ihm wieder im Halbdunkel. Die Luft roch muffig und unangenehm, und
als Fallon hinter dem Mädchen herstolperte, bemerkte er, daß
auf dem Fußboden kein Teppich lag. Am Ende des Flurs öffnete
sie eine Tür und ließ ihn in eine alte steingepflasterte
Küche eintreten. Dieser Raum war warm und freundlich, und Fallon
nahm seinen Hut ab und knöpfte den Mantel auf. »Hier ist es
angenehmer«, sagte er dabei.
»Legen Sie Ihren Mantel ab«, erwiderte das
Mädchen, ging an einen Gaskocher in der Ecke und entzündete
die Flamme unter dem Wasserkessel. Wo sich ursprünglich eine
altmodische Feuerstelle befunden hatte, stand jetzt ein moderner
Koksherd. Das Mädchen kniete davor nieder und begann die Asche
auszuräumen.
Fallon fragte sie: »Ist der Professor noch im Bett?«
Sie erhob sich, blickte ihn an und antwortete:
»Er ist vor einigen Wochen gestorben.« Ihr
gleichmütiger Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als sie
noch hinzusetzte: »Ich bin seine Tochter Anne.«
Fallon trat zum Fenster und starrte hinaus in den
Regen und in den verwilderten Garten. Hinter ihm machte sich das
Mädchen wieder an dem Kocher zu schaffen. Nach einer Weile drehte
er sich herum und sagte behutsam: »Er war der großartigste
Mann, den ich je gekannt habe.«
An der Hand des Mädchens haftete etwas Asche, und
als sie sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht wischte,
beschmierte sie sich die Stirn. »Er hat auch manchmal an Sie
gedacht, Mr. Fallon«, erwiderte sie. Dann wandte sie sich zum
Becken um und spülte ihre Hand unter dem
Weitere Kostenlose Bücher