Schrei in der Nacht
es.« Sie betrachtete die Straße beinahe zärtlich.
Ihr gaben diese Häuser ein Gefühl der Geborgenheit: Sie waren fast hundert Jahre alt, erbaut zu einer Zeit, als es in Manhattan noch Viertel gab, wo jede Familie ein Haus für sich bewohnte. Die meisten dieser Brownstones waren inzwischen verschwunden, abgerissen, um Hochhäusern oder Wolkenkratzern Platz zu machen.
Vor der Haustür versuchte sie, Erich gute Nacht zu sagen, aber er ließ sich nicht abwimmeln.
»Ich bringe Sie hinein«, erklärte er.
Widerstrebend führte sie ihn in das Apartment, das im Erdgeschoß lag. Sie hatte fröhlich wirkende, gelb-orange gemusterte Bezüge für die uralten Polstermöbel genäht; ein dunkelbrauner Teppichboden bedeckte den größten Teil des abgetretenen alten Parketts; die Kinderbetten standen in dem kleinen Ankleidezimmer, das vom Bad abging, und wurden von der Falttür verdeckt. Chagall-Drucke verbargen einige der Stellen, an denen die Farbe von der Wand blätterte, und Jennys Pflanzen verschönerten das Sims über dem Spülbecken in der Kochnische.
Froh, endlich erlöst zu sein, liefen Beth und Tina hinein. Beth drehte sich um. »Es ist schön, daß wir wieder zu Hause sind, Mami«, sagte sie. Sie blickte zu Tina. »Tina freut sich auch.«
Jenny lachte. »Oh, Maus, ich weiß, was du meinst.
Sehen Sie«, fuhr sie, zu Erich gewandt, fort. »Es ist klein hier, aber wir mögen es.«
»Das kann ich verstehen. Es ist sehr hübsch hier.«
»Na, sehen Sie nicht zu genau hin« sagte Jenny. »Die Hausverwaltung läßt es verkommen. Das Haus wird demnächst in Eigentumswohnungen umgewandelt, also geben sie kein Geld mehr dafür aus.«
»Wollen Sie die Wohnung kaufen?«
Jenny öffnete den Reißverschluß von Tinas Schneeanzug. »Daran ist leider nicht zu denken. Sie verlangen für dieses eine Zimmer fünfundsiebzigtausend Dollar, ob Sie es glauben oder nicht. Wir bleiben einfach so lange, bis sie uns hinausklagen, und suchen uns dann etwas anderes.«
Erich nahm Beth auf den Arm. »Nun aber raus aus den dicken Sachen.« Schnell machte er ihre Jacke auf, und dann sagte er: »Und jetzt werden wir Nägel mit Köpfen machen. Ich habe mich zum Essen eingeladen, Jenny.
Wenn Sie andere Pläne haben, werfen Sie mich bitte raus. Sonst sagen Sie bitte, wo der nächste Supermarkt ist.«
Sie standen da und sahen sich an. »Nun, was ist?«
fragte er. »Supermarkt oder Tür?«
Sie glaubte einen verzagten Unterton herauszuhören.
Ehe sie etwas sagen konnte, zupfte Beth an seinem Hosenbein.
»Du kannst mir vorlesen, wenn du willst«, forderte sie ihn auf.
»Damit wäre die Frage beantwortet«, sagte er fest.
»Ich bleibe. Man hat Ihnen die Entscheidung abgenommen, Mami.«
Er möchte wirklich bleiben, dachte Jenny. Er wünscht sich tatsächlich, den Abend bei uns zu verbringen. »Sie brauchen nicht einzukaufen«, sagte sie. »Wenn Sie Hackbraten mögen, ist alles da.«
Sie schenkte kalifornischen Chablis ein, stellte dann für ihn die Nachrichten an, während sie die Kinder badete und fütterte. Als sie den Tisch deckte und einen Salat machte, blickte sie ein paarmal verstohlen zum Sofa. Erich saß da, unter jedem Arm ein Mädchen, und las mit wildem Minenspiel aus ›Die drei Bären‹ vor. Tina fing an einzudösen, und er zog sie sanft auf seinen Schoß. Beth lauschte hingerissen und wandte den Blick keinen Moment von seinem Gesicht. »Das war sehr, sehr gut«, verkündete sie, als er fertig war. »Du kannst fast so gut vorlesen wie die Mami.«
Er blickte Jenny an, zog eine Augenbraue hoch und lächelte triumphierend.
Als die Kinder im Bett waren, aßen sie an dem kleinen Eßtisch in der Ecke, wo man in den kleinen Garten sehen konnte. Dort war der Schnee noch weiß. Die Bäume glitzerten in dem Licht, das er reflektierte. Dichte Nadelsträucher verdeckten fast den Zaun, der das Grundstück abgrenzte.
»Sehen Sie«, erklärte Jenny. »Das Land in der Stadt.
Wenn die Mädchen schlafen, sitze ich hier und trinke meinen Kaffee und stelle mir vor, ich betrachtete meinen Park. Turtle Bay, etwa zehn Blocks weiter oben, ist ein wunderschönes Viertel. Die Brownstones dort haben herrliche Gärten. Das hier ist so etwas wie Mock-Turtle Bay, nur ein Ersatz, aber an dem Tag, an dem ich ausziehen muß, werde ich sehr traurig sein.«
»Wohin gehen Sie denn dann?«
»Ich habe keine Ahnung, aber ich habe noch mindestens sechs Monate, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Wir werden schon etwas finden. Wie wäre es mit einem
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