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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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den Kopf hebt und einen anlächelt. In dieser Geografie gibt es keine Straßennamen, keine Hausnamen oder -nummern, und kein Erwachsener würde die Art begreifen, auf die ein Kind eine Straße, ein Zimmer oder auch nur die Ecke eines Sofas kennt. Und die Einwohner einer Stadt haben keine Ahnung, wie ein Neuankömmling diese wahrnimmt.
    Da waren Straßen, durch die ich schnell ging, um sie hinter mich zu bringen, weil sie mir nicht gefielen, und andere, in denen ich trödelte. Wenn ich die großen, wie Lagerhäuser aussehenden Gebäude in Earls Court erreichte, die völlig dunkel, schweigend, gleichgültig dastanden, ging ich schnell vorbei; ich wollte nicht, dass sie mich attackierten, weil ich das Gefühl hatte, dass sie voll latenter Gewalttätigkeit steckten. Wenn ich feststellte, dass ich bei der Albert Hall gelandet war, die noch vor vielleicht einer Stunde so mit Menschen angefüllt gewesen war wie eine Kiste mit Spielzeug, dann lösten ihre nüchternen Rundungen ein Gefühl der Sicherheit in mir aus – ja, hier bist du willkommen –; aber ich ging weiter, vielleicht ein kurzes Stück die Kensington High Street hinunter, so verlassen, als hätte die Pest gewütet. Es war immerhin erst Mitternacht. Vielleicht wartete jemand an der Haltestelle des Nachtbusses, und ich ging langsam vorbei, sah das Glühen einer Zigarette – es beleuchtete ein Gesicht, das keine Notiz von mir nahm, denn ein roter Bus rollte aus dem West End heran, unterwegs zu einem Vorort, den ich mir als das ferne Land der Tataren vorstellte, nicht ohne den leisen Funken von Freude zu empfinden, den man beim Denken an Orte hat, die man eines Tages vielleicht besuchen wird; nein, als eine riesige, im Dunkeln liegende Halbstadt, bestehend aus eigenständigen und selbstzufriedenen kleinen Häusern in winzigen Gärten – das war es, was ich mir vorstellte, während der einsame Fahrgast die Plattform betrat und der Bus ihn davontrug. Wie bestürzend die ungeheuren Ausmaße Londons doch auf den Neuankömmling wirken, der ich sechs, sieben, acht Jahre nach meiner Ankunft immer noch war, denn ich versuchte ständig, mich mit ihnen abzufinden, sie in den Griff zu bekommen. Ein geübter Bewohner Londons lernt, die Stadt sich untertan zu machen, indem er in einem Teil davon wirklich lebt – das heißt, mit Herz, Verstand und Sinnen –, sie zu seinem Zuhause macht, sagt: »London ist ein Konglomerat von Dörfern« und sich für eines von ihnen entscheidet, die beängstigende Unermesslichkeit des Restes vergisst und auf den Gruß der Frau von der anderen Straßenseite wartet oder auf ein Winken des Mannes, dem das Gemüsegeschäft gehört, oder auf ein freudiges Miau von der Katze aus Nummer  25 oder auf das Einbiegen in die Straße, an der Jahr für Jahr im Frühling ein bestimmter Baum voll weißer Blüten ist oder im Herbst ein Strauch sich scharlachrot verfärbt.
    Da war keine Spur von Geselligkeit in den Straßen, die ich in diesen Nächten durchwanderte, kein Restaurant, kein Café, und die Pubs hatten schon lange geschlossen. Wenn ich früh aufgebrochen war, bevor die Pubs schlossen, dann war jeder von ihnen eine Insel des Vergnügens, hinter seinen erhellten Fenstern von der Straße abgeschlossen, voller Leute, die einander kannten, denn Pubs sind so etwas Ähnliches wie Clubs, aber ohne Regeln und Mitgliedsausweise: Sie werden immer von den gleichen Leuten aufgesucht, die kleine Gemeinden bilden, eine Gesellschaft. Aber sobald die Pubs geschlossen hatten, gab es nur noch schlecht beleuchtete Straßen und dunkle Häuser. Eine Straße entlang – um eine Ecke biegen in eine andere, dann noch eine, nach deren Namen ich nie schaute, denn mir war völlig einerlei, wo ich mich befand, obwohl es, wenn ich mich von einem kleinen Straßenareal oder auch nur einer Straße in eine andere bewegte, so war, als bewegte ich mich von einem Territorium in ein anderes, von denen jedes eine eigene kraftvolle Atmosphäre und seine besondere Ausstrahlung hatte, verliehen von mir und meinem Verlangen, diesen neuen Ort zu verstehen. Nicht, seinen Namen zu kennen, um ihn wiederfinden zu können, denn ich bin sicher, dass ich oft durch dieselben Straßen und an denselben Häusern vorbeiging, ohne es zu wissen, weil meine Aufnahmefähigkeit und das Verständnis, das ich mitbrachte, von Nacht zu Nacht verschieden waren. Außerdem kann sogar am Tag ein Wechsel des Lichts oder auch nur eine veränderte Perspektive einen völlig neuartigen Anblick stiften. Man

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