Schritte im Schatten (German Edition)
Sanatorium zubringen musste, und als er herauskam, schaute er mitleidig auf den unwissenden jungen Mann zurück, der er gewesen war. Er war Journalist und hatte vor zu schreiben. Clancy und Alex durchstreiften gemeinsam Earls Court, Notting Hill Gate, Soho und alle anderen Gegenden, in denen etwas passierte – Verbrechen, Skandale, Proteste, »Demos« –, und saßen in Pubs, Cafés, Bushaltestellen, billigen Restaurants – die damals gerade überall aufmachten – herum. Sie beobachteten Leute, führten endlose Gespräche, hörten zu und meldeten den Behörden Ungerechtigkeiten. Sie waren beide Außenseiter, ins Abseits gedrängt von diesem ungeschriebenen Gesetz, das besagt, dass niemand die Grenze zwischen den beiden großen Kategorien der britischen Gesellschaft nach der einen oder anderen Seite hin überschreiten darf. Clancys amerikanischer Akzent und Alex’ Arbeiterklassen-Idiom, das er während dieser Ausflüge noch übertrieb, machten sie für die sogenannten gewöhnlichen Leute akzeptabel. Sie konnten hingehen, wo Leute wie ich nicht hingehen konnten. Ich hatte kein Problem, als ich noch meinen rhodesischen Akzent hatte, der mich außerhalb des Systems stellte, aber der war verschwunden, und jetzt wurde ich, wie es auf diesen Inseln Brauch ist, nach meiner Sprechweise beurteilt. Ich entdeckte ganz zufällig, dass ich meine Freiheit der frühen Jahre verloren hatte, als ich in Devon auf ein Eisenwarengeschäft zuging und sah, wie der Ladeninhaber mich beobachtete. Er stand auf der Schwelle, mit den Händen in die Seite gestützt, und dachte: Sie sieht aus wie »sie«, die Kleidung … aber da ist etwas, das nicht ganz … Er wartete darauf, dass ich sprach: Haben Sie … was immer es gewesen sein mag, und sofort änderte sich seine Haltung, er ließ die Arme sinken, und dann kam: »Ja, Madam, würden Sie bitte eintreten.«
Oft kamen Clancy und Alex in Hochstimmung nach einem ihrer Ausflüge hereingestürmt und erzählten mir beim Kaffee oder einer Mahlzeit von ihren Erlebnissen. Sie waren als Ehrenmitglieder von einigen Jugendgangs akzeptiert worden. Beide Männer identifizierten sich mit diesen Jungen, die nur wenig oder nichts gelernt hatten und nichts mit sich anzufangen wussten, außer sich auf der Straße herumzutreiben. Diese Beschützerleidenschaft für die Entrechteten: Ich wusste recht gut, was ich da zu hören bekam und woran ich Anteil nehmen sollte. Eines Abends brachten sie einen jungen Mann mit, der ein paar Stunden dasaß und über sein Leben redete, während Alex und Clancy ihn ständig ermutigten. Ihr Verständnis für seine Lage bewirkte, dass er sich wesentlich klarer und verständlicher ausdrückte, als er es normalerweise getan hätte. Er hatte nichts gegen seine Eltern, aber er wollte nicht so sein wie sie. Das Anschauen von Filmen – damals gab es noch wenig Fernsehen – hatte seinen Horizont erweitert, und er wollte sich nicht mit dem Leben seiner Eltern abfinden (ein Ausdruck, den Clancy oft gebrauchte und der für ihn einen Kompromiss mit dem Zweitbesten bedeutete). Aber er wusste, dass ihn seine Ausbildung zu nichts Besserem befähigte. Er sagte, er habe keinen Job, weil er mehr wolle als das, was er annehmen müsse. Aber bald werde er einen annehmen müssen, weil er seinen Eltern nicht auf der Tasche liegen wolle, und dann werde er heiraten, jemanden wie seine Schwester, und sobald er verheiratet sei, werde er in der Falle sitzen. Sein jetziges Leben bedeute das einzige bisschen Freiheit, das er je haben werde, und er geniesse sie, solange er könne. Wenn er erst einmal verheiratet sei, dann sei damit Schluss, dann sei alles aus. Mit anderen Worten, er dachte genau umgekehrt wie seine Schwester, die auf die Hochzeit wartete und glaubte, dann finge das Leben an. Dieser Besuch fand ungefähr eine Woche vor den Notting Hill Gate Riots statt, bei denen weiße Jugendliche auf schwarze einschlugen. Der junge Mann, der so intelligent über sein Leben gesprochen hatte, wurde verhaftet und kurz darauf im Old Bailey angeklagt. Ich ging zusammen mit Clancy und Alex zur Verhandlung. Die beiden wussten genau, was in dieser Nacht passiert war, denn sie waren dort gewesen und hatten alles beobachtet. Ich wusste, was passiert war, weil sie es mir erzählt hatten. Wir saßen in dem brechend vollen Gerichtssaal, während die Polizei log, die Zeugen logen, der Verteidiger log und die Angeklagten natürlich ebenfalls logen, um ihre Haut zu retten, aber es nützte nichts, sie wurden zu
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