Schritte im Schatten (German Edition)
übergroß, sehr hell, sehr dunkel, übel riechend, laut. Heute erlebe ich London nicht mehr auf diese Weise. Damals war es eine Stadt voll Dickens’scher Übertreibungen. Ich will damit nicht sagen, dass ich am Rande des Surrealen London durch eine Dickens’sche Maske sah; eher hatte ich Teil an Dickens’ grotesken Visionen.
Das London der vierziger und frühen fünfziger Jahre ist verschwunden, und heute kann man sich nur noch schwer vorstellen, dass es jemals existierte. Ungestrichen, die Häuser schmutzig, voller Risse, grau und öde. Es hatte schwer unter dem Krieg gelitten, einige Gegenden lagen vollständig in Trümmern, mit Löchern voll schmutzigen Wassers, und immer wieder wurde es heimgesucht von plötzlichem, dunklem Nebel – das war vor dem Clean Air Act. Niemand, der nur das heutige London mit seinen ordentlichen, sauberen Gebäuden kennt, mit gut besuchten Cafés und Restaurants, gutem Essen und Kaffee, mit Straßen, die bis nach Mitternacht belebt sind, mit zumeist jungen Leuten, die ihr Leben genießen, kann sich vorstellen, wie London damals war. Keine Cafés. Keine guten Restaurants. Die Kleidung immer noch von der Kriegsknappheit geprägt, düster und hässlich. Um zehn waren alle Leute in ihren Häusern verschwunden und die Straßen leer. Die Dining Rooms, während des Krieges subventioniert, waren im ganzen Viertel oft der einzige Ort, wohin man zum Essen gehen konnte. Sie servierten gutes Fleisch, fürchterliches Gemüse, Kinderpudding. Die Lyons-Restaurants waren der Höhepunkt der Esskultur für gewöhnliche Leute – ich erinnere mich an gebackenen Fisch, Pommes frites und Rührei auf Toast. Es gab gute Restaurants für die Wohlhabenden, sie neigten dazu, sich aus Verlegenheit zu verstecken, weil dort während des Krieges die strengen Gesetze der Rationierung erheblich gelockert worden waren. Nirgendwo auf den Britischen Inseln konnte man eine anständige Tasse Kaffee bekommen. Die einzige zivilisierte Annehmlichkeit waren die Pubs, aber die schlossen um elf, und für die Pubs muss man das richtige Temperament haben. Oder vielleicht sollte ich sagen, man musste, denn sie haben sich so stark verändert, vermitteln dem Außenstehenden nicht mehr den Eindruck, so etwas wie Clubs zu sein, jeder nur für seine Mitglieder oder Stammkunden, wo Außenstehende bestenfalls geduldet werden. Die Rationierung bestand noch. Der Krieg dauerte an, nicht nur an den von Bomben beschädigten Orten, sondern auch im Denken und Verhalten der Menschen. Jede Unterhaltung neigte dazu, früher oder später auf den Krieg zu kommen, zwanghaft, wie ein Tier, das sich immer wieder an einer wunden Stelle lecken muss. Vorsicht und Müdigkeit bestimmten das Lebensgefühl.
Am Silvesterabend 1950 rief mich ein Amerikaner aus der Verlagsszene an und fragte, ob wir uns gemeinsam in den Trubel zur Jahreswende stürzen wollten. Ich traf ihn um sechs Uhr in meinem besten Kleid am Leicester Square. Wir hatten mit einer fröhlichen Menschenmenge gerechnet, aber es war niemand auf den Straßen. Ungefähr eine Stunde verbrachten wir in einem Pub, fühlten uns aber fehl am Platz. Dann suchten wir nach einem Restaurant. Es gab die teuren Restaurants, die wir uns nicht leisten konnten, aber nichts von dem, was wir heute für selbstverständlich halten, die chinesischen, indischen, italienischen Restaurants und die von einem Dutzend anderer Nationalitäten. Die großen Hotels waren sämtlich ausgebucht. So wanderten wir kreuz und quer durch Soho und um den Piccadilly Circus herum. Alles war leer und dunkel. Dann sagte er, zum Teufel, lass uns ein bisschen Spaß haben. Ein Taxi brachte uns zu einem Club in Mayfair, und dort schauten wir dann zu, wie sich die Nachfolger der Bright Young Things betranken und sich gegenseitig mit Brot bewarfen.
Als das Jahrzehnt zu Ende ging, gab es Cafés und, den Italienern sei Dank, gutes Eis und gute indische Restaurants. Die Kleidung war bunt, billig und respektlos. London erstrahlte wieder in neuem Glanz und war fröhlich. Den größten Teil der Kriegsschäden hatte man beseitigt. Vor allem aber gab es da eine neue Generation, die nicht vom Krieg zermürbt worden war. Sie redeten weder über den Krieg, noch dachten sie an ihn.
Das erste Haus, in dem ich wohnte, lag in Bayswater, das damals ziemlich schäbig war und wo man sich die Vornehmheit früherer Zeiten kaum noch vorstellen konnte. Jeden Abend zogen Prostituierte in den Straßen auf. Ich musste mir die Wohnung mit einer Frau aus
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