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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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erkundigen, ob sie Friseurin werden könne. »Was verdient man da?«, erkundigte sie sich träge, und ihre schönen blauen Augen verrieten nichts als Langeweile.
    Um ein Model zu sein, war sie ein ganzes Stück zu klein. Gefragt, ob sie als Model für Büstenhalter und Unterwäsche arbeiten wolle, sagte sie, sie glaube nicht, dass ihr Dimitri das zulassen werde. Sie wolle ihn nicht verärgern. Sie sagte, eines Tages werde er sie heiraten. Nun ja, vielleicht werde er es tun, Wunder passierten schließlich. Ja, sie hatte ihn gern. Sie mochte es, ein wenig geschlagen – »Aber nie so, dass ich blaue Flecken bekomme, Mrs. Lessing, das dürfen Sie nicht glauben« – und dann aufs Bett geworfen zu werden. Eines Tages kam sie nicht von ihrem Zimmer herunter, was sie sonst für gewöhnlich um die Mittagszeit tat, und als ich hinaufging, fand ich meinen Morgenmantel auf dem Bett, das sie ordentlich wie ein braves Mädchen gemacht hatte, und auf dem Kissen lag ein Zettel: »Danke auch. Tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde. Haha.« Also war sie zu ihrem Griechen zurückgekehrt, und danach – wer weiß. Inzwischen muss sie eine dicke alte Frau mit gefärbten Haaren sein, vermutlich eine Säuferin, und der Gedanke schmerzt.
     
    In der Warwick Road pflegte ich abends spazieren zu gehen, spätabends. Heute würde man es nicht als spät empfinden, aber damals gingen die Leute viel früher zu Bett. Um elf Uhr lagen die Straßen ähnlich verlassen da, wie an den Abenden damals, als ich gerade in London angekommen war, und es gab nichts von alledem, was wir heute für so selbstverständlich halten, als wäre es schon immer so gewesen: belebte Straßen noch lange nach Mitternacht, fröhliche Gruppen zumeist junger Leute auf der Suche nach Vergnügungen und Abenteuern. Ich ging nur aus, wenn Peter in der Schule oder bei den Eichners war. Das geschah nicht, weil ich Angst hatte, ihn allein zu lassen. Im Erdgeschoss wohnten Leute und anfangs, als ich noch Zimmer vermietete, auch in der Wohnung; später war dann Clancy da, und seine Schreibmaschine ratterte wie ein Maschinengewehr. Nein, Peter hatte Angst um mich, weil ein Elternteil bereits verschwunden war, und er fürchtete, dass auch ich verschwinden könnte. Er sprach nie über seine Angst, aber ich wusste es.
    Das Herumwandern in den Straßen von London glich meinen nächtlichen Streifzügen durch Salisbury: Wenn ich aufbrach, brannte in den Häusern noch Licht, und wenn ich zurückkehrte, waren sie dunkel, und die Radios, die Musik von Haus zu Haus verbreitet hatten, waren verstummt. Nur jetzt war es das schwache Flackern des Lichts von Fernsehgeräten, das auf den Vorhängen verlosch, während ich spazieren ging.
    Weshalb tat ich das? Wonach suchte ich? Da war das Bedürfnis nach Bewegung, denn ich hatte all diese körperliche Energie, aufgestaut durch das Ritual, das ich zum Schreiben brauchte, wenn ich, blind für meine Umgebung, im Zimmer herumwanderte, ein bisschen schrieb und mich in ein Crescendo des Bemühens hineinsteigerte. Es war so intensiv, dass ich stets sehr schnell erschöpft war und ein paar Minuten Schlaf brauchte. Danach stand ich wieder auf und wanderte erneut im Zimmer umher. Dieser Vorgang konnte sich über Stunden hinziehen – die Arbeit an der Schreibmaschine und die kurzen, erholsamen Schlafintervalle –, aber all das war erstaunlicherweise nicht dazu angetan, aufgestaute Energien zu entladen, sondern beließ mir Energie, die ich verbrauchen musste.
    Es waren nicht die Straßen, die ich vom Tag her kannte. Dieses nächtliche London war ein fremdes Land, und beim Gehen dachte ich nicht, dies ist Kensington High Street, dies ist Earls Court. Ich pflegte die großen Straßen zu meiden, da ich sie und ihre gefühllose Selbstherrlichkeit, die mich ausschloss, als fremd empfand. Auf diese Art erlebt ein Kind eine bestimmte Straße oder sogar ein Zimmer. Man biegt um eine Ecke und stößt auf eine unvertraute Reihe von Geschäften, wo ein scharlachroter Briefkasten feindselig erscheint und der kleine Park auf der anderen Straßenseite voll ist von unbekannten Wegen und Sträuchern – trotzdem spielen Kinder darin, als ob dort nichts wäre, das ihnen gefährlich vorkommt –, oder man öffnet die Tür zu einem neuen Haus, in dem das Mobiliar schwer herumsteht, in einer geregelten Anordnung, die Draußenbleiben sagt, und dann begegnet man plötzlich einem Stuhl, der einen willkommen heißt, oder man steht im Eingang eines Ladens, wo eine Frau

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