Schroders Schweigen
mitgenommen hatte, ein angebliches Familienerbstück. Beim Versuch, den Schrank wieder aufzurichten, rutschte etwas von ganz hinten heraus und fiel mir vor die Füße.
Obwohl ich inzwischen alle schriftlichen Hinweise auf mein Leben vor meiner Kennedywerdung vernichtet hatte, war mein deutscher Pass – aus einer gewissen Notwendigkeit heraus – nie der Zerstörung anheimgefallen. Ich war kein amerikanischer Staatsbürger, also käme im Fall einer Reise außer Landes, was ich bislang problemlos hatte vermeiden können, notgedrungen der deutsche Pass zum Einsatz. Vor wer weiß wie vielen Jahren hatte ich ihn in diesem Schrank versteckt. Jetzt lag er offen und vielsagend auf dem Boden. Ich rieb mir die Augen und beugte mich vor, um ihn mir anzusehen. Da war ich, zehn Jahre jünger, ein lediger Mann von achtundzwanzig Jahren. Meine Haut war straff, mein Blick ein wenig eisig. Ich erkannte das Gesicht kaum wieder.
Der Name?
Nun ja, inzwischen ist er in aller Munde.
Schroder.
Erik Schroder.
Nein, nein. Schroder. Das r musst du als Kehllaut aussprechen. Tief im Rachen.
Schroder. Genau so.
Wo ist der Umlaut geblieben? Abgelegt. Bevor wir Deutschland verließen, war Dad von irgendjemandem vorgewarnt worden, dass Amerikaner mit Umlauten nichts am Hut hätten und dass man in den Vereinigten Staaten ohnehin nie den Nachnamen benutzte, vielmehr grüße man einander mit den Worten Halloo, Guy! . Und da sich mein Vater in den acht Jahren, die ich mit ihm in Boston lebte, kaum assimilierte, würde ich sagen, die Sache mit dem Umlaut war Dads einziges Zugeständnis an Amerika, eine Änderung, über die er 1979, als wir am Logan International von einer Schlange zur nächsten zogen, jeden seiner Zuhörer in Kenntnis setzte.
Mein Vater hatte wohl vorgehabt, uns einzubürgern. Aber er hat es nie getan. Rechtlich gesehen blieben wir Ausländer mit Aufenthaltsstatus. Daher lebten wir mit jenem latenten Verfolgungswahn, wie es Menschen tun, denen jederzeit die Ausweisung droht. Wir fuhren langsam, gingen nie bei Rot über die Straße, machten keine Schulden und vermieden jede Art von Gefälligkeit, weshalb wir mit der Bostoner Bevölkerung im Grunde gar nicht erst warm werden konnten. Als großer Verfechter von Vorschriften, sosehr sie ihm auch gegen den Strich gingen, legte Dad mir sogar nahe, immer das Kärtchen mit meiner Aufenthaltserlaubnis bei mir zu tragen, genau wie er selbst.
Ich habe es nicht begriffen. Mein Vater schimpfte aufs Übelste über Deutschland. Angeblich war es ihm egal, was die Leute gegen ihn oder die Deutschen sagten, denn niemand hasste Deutschland oder die Deutschen mehr als er. Kein Land habe mehr Scheiße gebaut als Deutschland. Er hatte unseren Umlaut geopfert. Sagte das nicht alles? Als ich noch auf der Highschool war, ging ich sogar eines Tages los, besorgte zwei Antragsformulare für die Einbürgerung und brachte sie mit nach Hause. Zu meiner Verblüffung sah ich, dass der Bewerber im ersten Abschnitt (D) des Formulars N-400 gefragt wird, ob er im Zuge der Einbürgerung von Amts wegen seinen Namen ändern wolle. Angesichts dieser Möglichkeit schlug mein Herz schneller, denn ich hatte ja schon einen neuen Namen, und hier hätte ich nun die Gelegenheit, ihn amtlich zu machen. Könnte ich ihn doch nur aussprechen. Vor ihm. Könnte ich doch nur sagen: Das bin jetzt ich. So heiße ich jetzt. Und der, der ich geworden bin, gefällt mir. Mein Vater stellte sich neben den Kartentisch, den ich als Schreibtisch benutzte, und überflog die Unterlagen. Er vertiefte sich in sie. Und genau in dieser Zeit ging mir auf, dass mein Streben nach Legitimierung lächerlich war. Der Unterschied zwischen dem Sommer-Ich und dem Dorchester-Ich war so krass, die Kluft so gewaltig, dass kein sterblicher Junge die beiden Ichs jemals zusammenbringen könnte. Meinem Vater gegenüber würde ich niemals meinen neuen Namen aussprechen können. Ich könnte vor niemandem beide Männer sein. Nachdem mein Vater die Antragsformulare auf den Tisch zurückgelegt hatte, verschränkte er die Arme und schüttelte langsam den Kopf, und ich war erleichtert.
»Nein, Erik. Ich will das nicht.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte ich.
»Es hat nichts damit zu tun, dass wir Deutsche sind. Es liegt am Staatswesen. Daran, dass es überhaupt Staaten gibt.«
So verharrten wir noch einen Moment, er neben dem Kartentisch.
»Außerdem«, sagte er und zuckte mit den Achseln. »Ist dir das denn immer noch nicht klar, Erik? Manche Dinge
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