Schroders Schweigen
sogar im Treptower Park, um 1974 herum, gab es ein Karussell. Das Leben in Berlin mochte einzigartig sein, aber die Kinder waren wie überall. Das heißt, ein Kind in Berlin hakte genau die gleiche Liste ab wie du damals: Wie viel Mal darf ich fahren, wer guckt zu und mit welcher Miene, wie nennt man dieses Gefühl, sich gleichzeitig auf und ab und im Kreis zu bewegen, und ist das eigentlich lustig oder nicht, und was macht das Kind neben mir oder was macht es nicht, wer heult und wenn ja, wie aufrichtig, und wie klingt die Musik, traurig oder lustig, oder aufgedreht und irre? Das Kind hakte alles ab, vor allem das, was nach dem Karussell war, alles, was durch die Bewegung und durch das Gefühl, eine Reise gemacht zu haben, besonders und seltsam wurde. Wie jedes Kind dachte der Junge in Ostberlin nachts im Bett über das Karussell nach. Seine Gedanken waren zweischneidig: Durch die Erinnerung an das Karussell hatte er das Gefühl, das Karussell zu »behalten« oder zu »besitzen«, und dennoch begriff er, dass das Karussell kein Gegenstand war, kein Luftballon oder Spielzeug, das sich besitzen ließ. Er hatte die köstliche Einsicht, dass das nächste Mal Karussellfahren – wenn er Glück hatte und seine Mutter wieder mit ihm hinging – nicht so sein würde wie dieses Mal Karussellfahren. Außerdem begann er allmählich zu verstehen, dass es einen Unterschied gab zwischen Geheimnis und Mysterium und dass das Leben – leider – ein Mysterium war und kein Geheimnis, das heißt, niemand konnte das Leben besitzen, niemand konnte es ihm verständlich machen, und niemandes Tod würde je die Antwort darauf liefern, und vielleicht erkannte er sogar, dass er von nun an beim Anblick eines Karussells, egal wie alt, egal wie grau er geworden war, nie wieder in der Lage sein würde, das rätselhafte Gefühl zu verstehen, das es in ihm geweckt hatte.
Immer im Kreis, immer im Kreis springen die gefrorenen Pferde.
Leid ist ein Karussell.
Schuld ist ein Karussell.
Das Leben ist ein Karussell.
Nein – Geschichte ist ein Karussell.
Nein, nein. Erinnerung.
Erinnerung ist ein Karussell.
DAS VERGESSEN
In äußerst strittigen Sorgerechtsfällen rät man den Eltern unter anderem, den Reisepass des Kindes zu beschlagnahmen. Wenn ein Elternteil fürchtet, dass der andere sich mit dem Kind davonmachen könnte – Stichwort Kindesentführung (so, jetzt ist es raus) –, sollte der oder die Betreffende das Gericht bitten, den Reisepass des Kindes in Verwahrung zu nehmen. Jedoch sollten Eltern sich darüber im Klaren sein, dass es a) in den Vereinigten Staaten keine Ausreisekontrollen gibt – mit anderen Worten, jeder von uns kann jederzeit nach Herzenslust rein- und rausspazieren – und dass es b) unmöglich ist, einen bereits ausgestellten Reisepass zu verfolgen oder zu widerrufen.
Hier wird’s dann schwammig.
Will sagen, hier kommt das Unbewusste ins Spiel. Mein Unbewusstes.
Offenbar bestärkt durch das vernichtende Sorgerechtsgutachten legte deine Seite gegen die Sorgerechtsvereinbarung Berufung ein und behauptete, ich sei eine Gefahr für meine eigene Tochter, und es wurde festgesetzt, dass diese Anschuldigung gegen mich erst dann fallengelassen würde, wenn ich mich einem psychologischen Test unterzogen hätte. In der Zwischenzeit wurde Thron von deiner Anwältin informiert, dass sie einen Antrag gestellt habe, die getroffene Vereinbarung neu zu fassen und damit das Sorgerecht weniger gemeinschaftlich zu gestalten. Die Gegenpartei sprach die Warnung aus, dass es mir unter allen Umständen untersagt sei, unbeaufsichtigt mit Meadow Zeit zu verbringen. Unsere Besuche sollten von einer bevollmächtigten Begleitperson überwacht werden. Nie wieder, schwor die Anwältin, sollte ich das Mädchen mit meinen skurrilen und fahrlässigen Erziehungsmethoden gefährden dürfen. Ebenso wenig sollte ich mit ihr allein sprechen dürfen. Hätte ich den Wunsch, Meadow zu sehen, dann nur unter Aufsicht eines Vertreters vom Jugendamt.
Auf diese Entwicklung reagierte ich, indem ich mir so viele Gläser Canadian Club hinter die Binde goss, dass ich am nächsten Tag mit nacktem Oberkörper auf dem Teppich erwachte, die heiße Mittagssonne im Gesicht. Ich sah mich in meinem Schlafzimmer um. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatte ich – wer sollte es sonst gewesen sein – umgeworfen: den Nachttisch aus dem Gebrauchtmöbelladen, das Bücherregal, ja sogar den neogotischen Kleiderschrank, den ich aus unserer Wohnung in Pine Hills
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